1. Unbestreitbar hat eine religiöse Grundhaltung in der us-amerikanischen
Bevölkerung die Wiederwahl von George W. Bush begünstigt, der sich
als "wiedergeborener Christ" und "gläubiger" Präsident
präsentiert hat. Ohne Zweifel verdankt sich der Erfolg der republikanischen
Partei bei den letzten Wahlen einer strategisch angelegten Koalition der neokonservativen,
an Freiheitspropaganda, Demokratieexport und Weltverbesserung interessierten
Strömungen mit einer christlichen Rechten, die im Inneren hartnäckig
an einer Re-Christianisierung der Gesellschaft als Ganzes arbeitet. Mit Gewissheit
ist unter der Vorherrschaft der Republikaner, die nun beide Häuser beherrschen
und mit ihren Mehrheiten auch die in den nächsten Jahren neu zu wählenden
Richter für den Supreme Court bestimmen kann, mit weiteren, religiös
motivierten Initiativen gegen das Recht auf Abtreibung, gegen die Homosexuellen-Ehe
und gegen weitere Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft zu rechnen.
- Aber das scheinbar so aufgeklärte Europa macht es sich zu leicht, wenn
es diese Entwicklungen jenseits des Atlantiks als Ausdruck einer reaktionären
Mentalität, als Zivilisationsdefizit oder als Rückfall in die Vormoderne
zu begreifen versucht. Wir kultivieren mit solchen Zuschreibungen ein dichotomes
Weltbild, in dem das säkulare, kosmopolitisch-weltoffene und multilateral
operierende Europa einem dumpf-religiösen, bornierten und im Gefühl
seiner göttlichen Auserwähltheit selbstherrlich agierenden Mehrheitsamerika
entgegensteht. Die Fixierung auf diesen Gegensatz trübt unseren Blick -
bis zur Blindheit - nicht nur für die historische und gesellschaftliche
Funktion, die Religion in den Vereinigten Staaten hat, sondern auch für
den Zustand unserer eigenen Gesellschaften und für bestimmte Kehrseiten
der kapitalistischen Globalisierung, für die der Westen insgesamt Verantwortung
trägt.
2. Gegen das wohlfeile und unter europäischen und amerikanischen Linken
zum guten Ton gehörende Lamento über das christlich-fundamentalistische
Imperium mit seiner Religionsbesessenheit im Inneren und seiner Kreuzzugsmentalität
nach außen lässt sich in bewusster Zuspitzung einiges einwenden.
Erster Einwand: Die religiös-puritanische Tradition hat im mentalen Untergrund
der amerikanischen Nation eine antietatistisch-freiheitliche Tendenz, die historisch
gegen die Staatsreligionen in den europäischen Mutterländern gerichtet
war und auf die sich alle bisherigen Präsidenten, auch Heroen der demokratischen
Partei wie John F. Kennedy, obwohl dieser selbst Katholik war, oder Bill Clinton,
mehr oder weniger ausdrücklich verpflichtet haben; so besonders ist also
die Berufung von George Bush II auf die Bibel also nicht, der christliche Chiliasmus
ist schlicht us-amerikanisch, auch wenn er uns als besonders demonstrativ, peinlich
und aufgesetzt erscheinen mag.
Zweiter Einwand: Gerade die Trennung von Staat und Kirche hat in den USA die
gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Religion gestärkt, die eben
nicht nur in den schwarzen Gemeinden praktiziert wird (wo wir sie gerne als
in Lithurgie verkleidete politische Lebensäußerung einer unterdrückten
und diskriminierten "Minderheit" wertschätzen) oder im konservativen
"bible belt" (wo wir sie mehr oder weniger verächtlich dem beschränkten
Weltbild der weißen Landbewohner zurechnen), sondern auch und zunehmend
in Suburbia und Exurbia. Überall im Lande gilt die Religion als von sozialen
und Familienwerten geleitete, der sozialen Integration dienende Anleitung zur
Lebensführung.
Dritter Einwand: Gerade die Sinn- und Wertefragen, die einer auf instrumentelle
Rationalität, Handel und Profit verkürzten Säkularisierung verloren
gegangen sind, werden in den Zeiten der kapitalistischen Globalisierung im Gewand
der Religion erneut auf die Tagesordnung gesetzt; in Europa selbst, das sich
anschickt, politisch zu der Supermacht zu werden, die es ökonomisch längst
ist, werden wir uns diesen Fragen stellen, sie übersetzen und Antworten
finden müssen (s. Habermas: Glaube und Wissen).
3. Auch ein in christlich-jüdischen Traditionen stehendes vereintes Europa, das seine Religion vorwiegend als Zivilreligion praktiziert, auf interkulturelles Zusammenleben und interreligiösen Dialog setzt und sein Christentum längst zum Sozialstaat verfeinert hat, wird sich der neuen Sinn- und Wertedebatte nicht entziehen können, die in den USA unter religiösen Vorzeichen die Präsidentschaftswahlen beherrscht hat und im Kern eine moralische Debatte ist: Wie sollen die säkular-kapitalistischen, demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des Westens gestaltet werden, sodass wir sie unseren Kindern gerne vererben? Und wie soll die "eine Welt" aussehen, in der alle Völker und Nationen ihren gerechten Anteil an den Errungenschaften der Globalisierung haben: an den globalen Freiheiten, am globalen Wohlstand - und an der globalen Verantwortung. Die Gerechtigkeitsfrage, die von den Globalisierungskritikern aufgeworfen und ins Zentrum ihrer Attacken auf den reichen Westen gestellt wird, lässt sich offenbar weder mit neoliberalen noch mit den alten Rezepten des Sozialismus lösen. Diese Rezepte versagen schon im Inneren der westlichen Gesellschaften mit ihren kapitalistischen Volkswirtschaften in der Dauerkrise, die auch eine Legitimationskrise ist (Stichwort: chronische Massenarbeitslosigkeit mit den bekannten verheerenden Folgen). Sie scheitern aber auch auf dem Feld der internationalen Zusammenarbeit, weil sie die Widersprüche nicht lösen können, die sich aus den Entwicklungsunterschieden, dem Armutsgefälle, den gespaltenen Arbeitsmärkten und nicht zuletzt aus der brisanten Ungleichheit der sozialen, kulturellen und religiösen Traditionen ergeben. Provokativ gesagt lautet die Frage, ob bei der Übersetzung der traditionell von den Religionen beantworteten Sinn- und Wertefragen auf die Probleme einer zusammenwachsenden Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert angesichts der gescheiterten sozialistischen Alternative nicht doch von den Religionen gelernt werden kann - vielleicht in Gestalt einer Mischung aus protestantisch-kapitalistischer Ethik, katholischer und islamischer Soziallehre und jüdisch-kosmopolitischem Weltbürgergeist.
Dr. Martin Altmeyer ist Diplom-Psychologe, Autor und Publizist in Frankfurt
am Main.