Was ist politisch an Kunst und Literatur in den Neunzigern?

Von Bernhard Bauser

 

1. Was will die Kunst?

Als Künstler bin ich an den Ausdrucksformen interessiert, in denen wir uns heutzutage verständigen. Als Schriftsteller möchte ich sensibel werden für die Sprache und die Sprechformen. Wie die Leute reden, das ist mein Material, abgesehen von der literarischen Tradition. Was ich damit mache, ist etwas Neues, etwas, was mir gefällt und womit ich gefallen, unterhalten, belustigen, interessieren, oder abstoßen, ekeln, erschrecken, schockieren möchte. Die Literatur ist es, womit ich all das tun möchte, die Literatur und nur diese ist mein Einsatz im politischen Raum. Sobald ich das ausspreche, regt sich Widerspruch: Kästchendenken, Reduzierung der Kunst aufs Handwerkliche, l’art pour l’art. Das kann doch für einen Schriftsteller nicht alles sein, nur Literatur zu machen! Dennoch: Eine Situation nach dem Muster: "Der Künstler X nimmt zum politischen Problem Y Stellung" hat nichts mehr mit der eigentlichen Kunst des Künstlers X zu tun, sondern ist eher dazu geeignet, seine Kunst in ihrer politischen Dimension zu entwerten. Doch worin besteht die "politische Dimension" der Kunst?

Der Ort des Künstlers ist der Berührungspunkt zwischen dem Politischen und dem Alltäglichen. Eine Hochglanzpolitik auf der einen, ein Kloakenalltag á la "social beat" auf der anderen Seite sind nur Extrempunkte, das Arbeitsfeld der Kunst aber ist umfassender, das System der Nervenbahnen im Leib der Gesellschaft ist es, womit sie sich beschäftigt, ihre Sprach-, Sprech- und Ausdrucksformen, die sich durch sie hindurchziehen, die allen gemeinsam sind. Die sind das Material, an dem der Künstler arbeitet.

Die Kunst soll also Kunst bleiben und sich nicht einreden lassen, keine gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen oder sich von der Politik abzuwenden. Die Kunst treibt Politik mit den Mitteln der Kunst. Zum Beispiel kann die Kunst den Leuten nicht vorschreiben, was sie zu denken haben, sei es politisch oder sonstwie, die Kunst ist kein Meinungsfabrikant, der Meinungskostüme prête-à-porter abliefern würde. Und wenn die Kunst Meinungen abliefert, so sind sie mit Vorsicht zu genießen, denn die Künstler sind, wie Platon schon wußte, die größten Lügner im Staate. Meinungen der Künstler, soweit sie im Werk auftauchen, sind keine politischen Meinungen, sondern Kunst. Sie sind aber insofern Politik, als sie Kunst sind.

Die Kunst zeigt in erster Linie, sie sagt nichts aus. Indem sie aber zeigt, tut sie einen Raum auf. Die kleine Hoffnung des Künstlers ist die, daß er durch sein Zeigen, durch sein Raumauftun auch die Art der Politik, die Art des Alltäglichen beeinflußt. Jeder von uns kennt die Erfahrung, daß er die Welt anders sieht, nachdem er eine Musik gehört, ein Bild, eine Installation gesehen, ein Gedicht, einen Roman gelesen hat. Kunst wirkt, wenn es gut geht, karthatisch. Auf dieser individuellen Ebene verändert die Kunst, aber nicht im Sinne der Handlungsanweisung (Muster: Betriebsanleitung), sondern indem sie neue Horizonte auftut oder alte, verschüttete, wieder erfahrbar sein läßt. Sie verändert das Feld des Handelns, auch des im engeren Sinne politischen Handelns einer Person. Aber diese Macht der Kunst liegt nicht in ihrer Macht, ist abhängig von den individuellen Rezeptionsbedingungen, der Biographie, der Lebenslage, der Laune, dem Wetter usw., und es wäre es Unsinn, nähme der Künstler etwa Horizonterweiterung als Ziel seines Ehrgeizes oder deklarierten andere sie als Zweck der künstlerischen Produktion.

Das heißt aber nicht, daß ich mich als Person abwende von der Politik, vom Politischen. Wenn ich mich als Künstler dagegen verwehre, tagespolitisch ausschlachtbar zu sein, so bedeutet das nicht, daß ich mich als Person nicht politisch engagiere. Und es ist auch sehr wohl möglich, daß mein persönliches politisches Engagement Auswirkungen hat auf meine künstlerische Produktion. Aber solche Effekte sind nicht planbar. Das politische Gespür für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeiten, für wünschbare und unhaltbare Zustände, für einen aktiven Naturbezug und ökologische Desaster, für Demokratie und die Imagepflege der Politiker, dieses politische Gespür ist ein anderes als die Empfindlichkeit für das, was mich als Künstler dazu bewegt, künstlerisch produktiv zu sein.

 

2. Politisches Gewurstel und Netzwerk.

Was spezifiziert das Verhältnis von Kunst und Politik in den Neunzigern? Die Politik der Neunziger ist geprägt vom großen Schub der globalen Interdependenz, Stichwort: Globalisierung. Die scheinbare Alternative eines "real existierenden" Sozialismus existiert nicht mehr, die Marktwirtschaft - mal mehr, mal weniger sozialstaatlich abgefedert - ist alternativlos geworden. Das bedeutet einerseits eine bislang unvorstellbare Ausdehnung des Wirkungsfelds politischen Handelns, andererseits aber eine schleichende Abdankung der Politik vor der Ökonomie, was sich zeigt in den "Standortdebatten", der Rede von "Stabilitätskriterien", der Diskussion um "Lohnnebenkosten", der Sorge um die "Fitneß" in nur ökonomischer Hinsicht. Die Ökonomie nutzt die Möglichkeiten globaler Vernetzung heute viel flexibler und produktiver als die Politik. Die Politik kommt nicht hinterher mit der Ausbildung politischer Strukturen, sie ist eingeklemmt zwischen den Erfordernissen eines nationalen politischen Systems und den neuen Maßstäben und Imperativen eines globalisierten Politikraums. Die Folge von Weltkonferenzen in den Neunzigern (z. B. Klimakonferenz, Menschenrechtskonferenz, Frauenkonferenz) sind zwar ein Schritt nach vorn, denn sie dienen der Ausbildung von so etwas wie Weltöffentlichkeit als Voraussetzung eines globalen politischen Bewußtseins, aber sie sind auf Dauer kein Ersatz für die Ausbildung globaler politischer Strukturen.

Auch die Situation der Kunst ist von dieser Entwicklung nicht abgeschottet. Ließ sich in den fünfziger und sechziger Jahren noch von einer Öffentlichkeit reden, an die die Kunst sich wenden konnte, die wußte, was politisch an der Tagesordnung war, so ist heute eine ungeheure Zersplitterung der Foren und der politischen Themen zu sehen. Selbst wenn die Kunst politisch Position bezöge: Wo? Für wen? Wofür? Wogegen?

Wo? Auf dem etablierten, kommerzialisierten Literaturmarkt, der alles schluckt und alles so läßt, wie es ist? In den alternativen Medien wie Literaturzeitschriften, Offener Kanal, Mailart, Radio X, Internet, bei denen alles anders ist und die dennoch politisch nichts bewirken?

Für wen? Sind es die Schmökerer, an die wir uns wenden und die die Bücher wenigstens kaufen, so daß wir in Ruhe weiterschreiben können? Oder sind wir es selber, die wir uns einreden, offen zu sein für Horizonterweiterungen, sensibel und idealistisch, am großen Projekt der Zivilisierung der Welt weiterzuarbeiten? Sind es die sozial Benachteiligten, denen wir mit den Beglückungen der Kunst eine trügerische Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lage verschaffen? Oder die Reichen, die mal mehr in puncto Mäzenatentum tun könnten?

Wofür? Wogegen? Für die Verbesserung der Lage der Kaffeeanbauer in Kolumbien? Für die globale Reduzierung des Stickstoffausstoßes? Für mehr Strukturen direkter Demokratie? Gegen das drohende Verbot von Fixerstuben? Gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer? Gegen die Verschärfung der Gesetze gegen illegale Einwanderer in den Raum der EU?

Was ich damit sagen möchte: Eine Situation, die einerseits unbestreitbar die Gefahr des Sichverzettelns, des Sichverlierens, der Beliebigkeit in sich birgt, stellt andererseits auch eine Ausweitung des Arbeitsfeldes und des Wirkraums der Kunst dar, wie wir sie uns bisher nur wünschen konnten. Die Vervielfältigung der Foren (Open-Mike-Lesungen, Festivals, Internet, große und kleine Buchmessen, Offene Kanäle usw.) ermöglicht das Sichkennenlernen, den Austausch und die gegenseitige Hilfestellung von Künstlern auf regionaler, nationaler, globaler Ebene. Das ist schon eine Menge. Dazu kommt die Verbesserung der technischen Ausstattung speziell für Schriftsteller, die es ihnen ermöglicht, in Grenzen auch ohne die Unterstützung eines Verlags eine gewisse Verbreitung ihrer Werke zu erreichen. Ein Netzwerk bildet sich aus (siehe den Beitrag von Dirk Hülstrunk), das zwar nicht tagespolitisch in Erscheinung tritt, aber insofern politisch relevant ist, als es seine – wie immer brüchigen - Strukturen konsolidiert. Mehr kann von der Seite der Kunst der Kunst, aber auch der Politik nicht zugemutet werden. Entschließt sich aber ein Künstler im engeren Sinne politisch tätig zu sein, so trägt und stützt ihn die Solidarität, die er im Netzwerk erfahren und erlernt hat. Was natürlich nicht heißt, daß sich das Netzwerk solidarisch zeigt mit den Zielen seines politischen Engagements.