Hiltrud Breyer

Europas Frauen in guter Verfassung

Im Oktober 2002 legte der Konvent den ersten Vorschlag für eine Europäische Verfassung vor. Inzwischen folgte der zweite Entwurf. Welche Fortschritte enthält er bei der Gleichstellung der Geschlechter? Wo besteht noch immer Nachbesserungsbedarf?

Die künftige Europäische Verfassung ist von zentraler Bedeutung. Denn sie wird an Stelle des bestehenden EG-Vertrages treten und ohne Ausnahme in allen alten und neuen Mitgliedstaaten gelten. Hinzu kommt ein Weiteres: Nur auf Grundlage dieses Primärrechts kann die EU gesetzgeberisch handeln. Insofern werden damit auch die Weichen für die künftige EU-Politik zur Gleichstellung der Geschlechter gestellt. Aus diesem Grunde ist es unabdingbar, dass die neue Verfassung eine starke politische und rechtliche Basis zur Gleichstellung enthält. Mit anderen Worten: Es reicht nicht, bloß festzustellen, dass Frauen und Männer gleich und Diskriminierungen verboten sind. Vielmehr muss die Verfassung positiv die Pflicht festschreiben, alle Ungleichheiten zu beseitigen.

Die Mehrheit Europas ist weiblich. Deshalb wird die künftige Verfassung davon leben, dass sich Europas Frauen mit ihr identifizieren. Dies geschieht jedoch nur dann, wenn sie in ihr einen Mehrwert erkennen. Oder noch besser: Eine Errungenschaft, für die es sich lohnt, einzutreten. Weil sie zu Neuem inspiriert und zudem begeistert.

Diese Maßstäbe erfüllt auch der zweite Entwurf für eine Europäische Verfassung bei Weitem nicht. Schon im ersten Artikel ist nur von einem Vertrag zwischen den Völkern die Rede. Der Rest liest sich dann wie die Klauseln eines Völkerrechtsvertrages. Im Mittelpunkt stehen vor allem Verfahrensfragen. Die Bürger spielen keine Rolle. Und die Bürgerinnen erst recht nicht.

Dieser Distanz in der Semantik entspricht die Abgehobenheit der öffentlichen Diskussion. In der Wahrnehmung der Menschen geht es bei der Schaffung einer Europäischen Verfassung vor allem um die Frage, ob die EU künftig ein oder zwei Präsidenten haben wird. Von einer Präsidentin war bislang ohnehin noch nie die Rede. Dass eine solche Diskussion bei den Frauen Europas nicht gerade Begeisterung weckt, sondern eher zur Verdrossenheit führt, dürfte nicht verwundern.

Beispielhaft im negativen Sinne ist zudem Folgendes: Gerade 17 Prozent der Mitglieder des Konvents sind weiblich. Sie repräsentieren jedoch die Mehrheit in der EU. Ein solch grobes Missverhältnis ist sicherlich alles andere als ein demokratisches Schmuckstück. Zum Vergleich: In der Verfassungsgebenden Versammlung Afghanistans beträgt der Frauenanteil 25 Prozent.

Zu den Grundlagen einer Gemeinschaft gehören vor allem die Werte und Ziele, nach denen sie lebt. Kaum zu glauben, aber wahr: Im ersten Entwurf der Verfassung kamen Gleichstellung und Gender Mainstreaming weder als Wert noch als Ziel vor. Artikel 2, der die Werte der EU beschreibt, konzentriert sich bewusst auf das Wesentliche: die Achtung der Menschenwürde sowie der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Gleichstellung von Frau und Mann bleibt jedoch auch im zweiten Entwurf außen vor. Dabei gehört die Gleichstellung zu den zentralen Kennzeichen einer Gesellschaft, die ihre Gegenwart zukunftsfähig gestalten will. Die Aufnahme in den Wertekatalog ist deshalb unverzichtbar.

Nach der Vorlage des ersten Entwurfs war der Protest der Europäischen Frauenverbände groß. Sie kritisierten zu recht, dass der Entwurf fast ausschließlich von und für Männer gemacht wurde. Auch der Frauenausschuss des Europäischen Parlaments, der Bundesfrauenrat von Bündnis 90/DIE GRÜNEN sowie eine kleine Gruppe von Frauen innerhalb des Parlaments befassten sich damit. Ausschließlich dieser massiven Lobbyarbeit ist es zu verdanken, dass wenigstens der zweite Entwurf deutlich besser ausfällt.

Immerhin nennt er inzwischen die Gleichstellung als verfassungsrechtliches Ziel - wenn auch in einem Atemzug mit der Weltraumforschung. Selbst in anderen Punkten wird inzwischen fast der Standard des geltenden EG-Vertrags erreicht.

So enthält der zweite Teil des Entwurfs eine Querschnittsregelung, die mit Artikel 3 EG-Vertrag identisch ist. Sie bedeutet: Alle Ressorts und Verwaltungen müssen weiterhin die Gleichstellung beachten und verwirklichen. Weiterhin findet sich im zweiten Teil des Verfassungsentwurfs die Regelung von Artikel 137 EG-Vertrag. Sie erlaubt der EU, "Tätigkeiten der Mitgliedstaaten" bei der "der Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und der Gleichbehandlung am Arbeitsplatz" zu unterstützen und zu ergänzen.

Daneben findet sich auch der Wortlaut von Artikel 141 EG-Vertrag. Er formuliert das Gebot "gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertige Arbeit". Außerdem macht er klar: Das Gebot der Gleichbehandlung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, Maßnahmen zu ergreifen, die die Berufstätigkeit des "unterrepräsentierten Geschlechts" erleichtern. Außerdem können Mitgliedstaaten auch künftig Vergünstigungen beibehalten oder beschließen, die der Verhinderung oder dem Ausgleich von Benachteiligungen dienen.

Des Weiteren existiert eine Regelung, die - allerdings abgeschwächt - den Artikel 13 EG-Vertrag übernimmt. Danach kann der Rat künftig "einstimmig die erforderlichen Maßnahmen annehmen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts (...) zu bekämpfen." Im Vergleich dazu sieht der bestehende Artikel 13 EG-Vertrag eine wesentlich aktivere Rolle des Rates vor. So kann er geeignete Vorkehrungen "treffen", um Diskriminierungen zu bekämpfen. Zudem implizieren "geeignete Vorkehrungen" rechtlich einen weiteren Handlungsraum als der Begriff "erforderliche Maßnahmen".

Ein Fortschritt ist weiterhin: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird jetzt zum integralen Bestandteil der Verfassung erklärt. Danach gilt gemäß Artikel 23 die Gleichheit von Männern und Frauen. Allerdings wird auch hier versäumt, die EU zu einer aktiven Verwirklichung der Gleichstellung zu verpflichten. Sinnvoll wäre deshalb Folgendes: Zusätzlich zum Verbot der Diskriminierung sollte an dieser Stelle ausdrücklich festgelegt werden, dass eine generelle Verpflichtung zur Beseitigung von Ungleichheiten besteht.

Trotz der zahlreichen Verbesserungen im Vergleich zum ersten Entwurf fehlen noch immer wichtige Punkte. So ist es meiner Ansicht nach dringend geboten, die Gleichstellung in den Zuständigkeitskatalog von Artikel 12 des Verfassungsentwurfs aufzunehmen. Dies würde rechtlich klarstellen, dass sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten für die Gleichstellung zuständig sind.

Des Weiteren halten wir es für unverzichtbar, dass die Verfassung im zweiten Teil einen eigenen Artikel zur Gleichstellung erhält. Dieser sollte den Bestand des geltenden EG-Rechts zur Gleichstellung garantieren. Außerdem müsste er eine rechtliche Grundlage schaffen für neue Sekundärgesetze zur Gleichstellung. Darüber hinaus sollte er jeder BürgerIn, die oder der aufgrund ihres bzw. seines Geschlechts diskriminiert wird, ein subjektives Recht verleihen, auf das sie oder er sich direkt berufen kann.

Alleine im Jahr 2000 wurden ca. 120.000 Mädchen und Frauen aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäische Bordelle und sklavenähnliche Verhältnisse verschleppt. Um diesen abscheulichen Menschenhandel zu bekämpfen, muss die Verfassung aktiv dagegen vorgehen. Und zwar mit effektiven Maßnahmen und angemessenen Ressourcen. Gleiches gilt für die sexuelle Ausbeutung sowie für alle Formen der Gewalt gegen Frauen in der EU. Eine solche Klausel ist auch deshalb wichtig, damit die DAPHNE-Programme zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen künftig mehr Geld erhalten. Denn beim aktuellen Programm haben die Mittel nur gereicht, um elf Prozent der Förderanträge zu bewilligen. Hinzu kommt ein Weiteres: In fast allen Beitrittsstaaten ist die häusliche Gewalt ein großes und verbreitetes Problem. So hat sich alleine in der Slowakei seit 1990 die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt verfünffacht.

Zur Demokratie gehört untrennbar eine ausgewogene Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungen. Dementsprechend sollte die Verfassung das Ziel festschreiben, die Institutionen der EU paritätisch zu besetzen.

Wichtig ist außerdem: Wie im geltenden EG-Vertrag in Artikel 2 und 3 vorgesehen, sollte Gender Mainstreaming auch künftig in allen Handlungs- und Politikbereichen verpflichtend sein. Und zwar für alle Akteure auf allen Ebenen. Dazu gehört auch die Wirtschaftspolitik der EU sowie das Gender Budget beim Haushalt. Zudem sollten die Verfassung und alle künftigen Rechtstexte der EU geschlechtsneutral formuliert werden.

Eines ist klar: Die Gleichstellung ist eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre, selbst wenn sie bislang in den alten und neuen Mitgliedstaaten der EU noch lange nicht verwirklicht ist. Darüber hinaus ist sie ein zentraler Wert, der die Kultur, den Geist und die Identität einer Gesellschaft mitbestimmt und die Mentalität der Menschen prägt. Aus diesem Grunde ist es für Bündnis 90/DIE GRÜNEN ein zentrales Anliegen, in Europa eine Gesellschaft aufzubauen, die diesen Wert auch wirklich lebt. Denn nur wenn Europas Frauen in guter Verfassung sind, wird es uns gelingen, sie für die europäische Integration zu begeistern.

 

Hiltrud Breyer ist Europaabgeordnete für Bündnis 90/DIE GRÜNEN und bearbeitet schwerpunktmäßig Umwelt-, Energie- Verbraucher- und Frauenthemen.