Die EU-Erweiterung steht vor der Tür. Anfang 2004 werden zehn weitere Staaten der EU beitreten. Welche Folgen hat dies für die ökonomische, soziale und rechtliche Stellung der Frauen? Wie kann der Beitritt die Rechte der Frauen stärken? Und was ist hierfür zu tun?
Der Countdown läuft. Am 15. April 2003 werden die Beitrittsverhandlungen mit den ersten zehn Staaten formell abgeschlossen. Das bedeutet: Am 1. Mai 2004 werden Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Slowenien, Malta, Zypern, Slowakei und Tschechische Republik der EU beitreten. Rumänien und Bulgarien folgen voraussichtlich im Jahr 2007. Außerdem machte der Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 den Weg frei für künftige Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Erfüllt die Türkei bis Dezember 2004 die erforderlichen Kriterien, könnten die Verhandlungen über einen Beitritt zügig beginnen. Hierüber entscheidet der Europäische Rat im Dezember 2004.
Natürlich hat der Beitritt von zehn bzw. zwölf oder dreizehn neuen Mitgliedern große Auswirkungen auf die EU und die bestehenden Mitgliedstaaten. So bringt die Vergrößerung von derzeit 15 auf zunächst 25 Staaten große Veränderungen für Verfahren und Institutionen der EU. Beispielsweise hinsichtlich der Neuverteilung der Stimmrechte im Ministerrat, bei der Veränderung der Sitzverhältnisse im Europäischen Parlament, im Ausschuss der Regionen und im Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie bei den Finanzen.
Vor die größten Veränderungen werden jedoch die Kandidaten
selbst gestellt: Sie müssen vor dem Beitritt bestimmte ökonomische
und politische Kriterien erfüllen - die so genannten Kopenhagener Kriterien.
Hierzu zählt u.a. die Umsetzung des EG-Rechts in das nationale Recht und
dessen Anwendung in der Praxis. Dies gilt auch für das Gebot der geschlechtlichen
Gleichstellung. Denn dieser Grundsatz ist im EG-Vertrag an verschiedenen Stellen
verankert.
So gehört es nach Artikel 2 des EG-Vertrages zu den Aufgaben der Gemeinschaft, die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Weiterhin verpflichtet Artikel 3 die Gemeinschaft, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung zu fördern. So kann sie gemäß Artikel 13 Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts zu bekämpfen. Zudem muss sie nach Artikel 137 solche Tätigkeiten der Mitgliedstaaten unterstützen und ergänzen, die der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und der Gleichbehandlung am Arbeitsplatz dienen. Außerdem legt Artikel 141 das Prinzip "gleicher Lohn für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit" fest. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Anwendung dieses Grundsatzes zu gewährleisten. Darüber hinaus stellt Artikel 141 Folgendes klar: Das Gebot der Gleichbehandlung hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, Maßnahmen zu ergreifen, die die Berufstätigkeit des "unterrepräsentierten Geschlechts" erleichtern. Des Weiteren können sie Vergünstigungen beibehalten oder beschließen, die der Verhinderung oder dem Ausgleich von Benachteiligungen dienen.
Das EG-Recht konkretisiert das Gebot der Gleichstellung derzeit vor allem in folgenden Richtlinien: Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG); Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie bei den Arbeitsbedingungen (76/117/EWG; diese Richtlinie wird zurzeit überarbeitet). Außerdem: Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/EWG), bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (86/378/EWG) sowie bei Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit - auch in der Landwirtschaft - ausüben (86/613/EWG); Maßnahmen zur Verbesserung des Mutterschutzes und des Gesundheitsschutzes für schwangere Arbeitnehmerinnen (92/85/EWG). Weiterhin bestehen Richtlinien über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (93/104/EG), zur Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (97/81/EG), zum Elternurlaub (96/34/EG) sowie zur Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (97/80/EG).
Von Bedeutung sind außerdem die "Rahmenstrategie der Gemeinschaft zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern" mit einer Laufzeit von 2001 bis 2005 sowie die "Europäische Beschäftigungsstrategie". Letztere enthält Leitlinien für die Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten. Eine der vier tragenden Säulen ist hierbei die Gleichstellung der Geschlechter. Jedes Jahr müssen die Mitgliedstaaten nationale Aktionspläne aufstellen, die im Einklang mit diesen Leitlinien stehen. Wichtig ist weiterhin die Sozialpolitische Agenda vom Dezember 2000. Denn sie legt für fünf Jahre die Handlungsschwerpunkte der Europäischen Sozialpolitik fest. Einer dieser Schwerpunkte ist die Förderung der Gleichstellung.
All dies zeigt: Das Gemeinschaftsrecht beherbergt bereits heute einige gute
Instrumente. Diese können künftig in Beitrittsstaaten die ökonomische,
rechtliche und soziale Gleichstellung der Frauen vorantreiben.
Der Vielzahl der beitretenden Staaten entspricht die Vielfalt der Ausgangssituation. Dies zeigen die so genannten Fortschrittsberichte, die die EU-Kommission jährlich für jeden Beitrittskandidaten erstellt, um den Fortschritt bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien zu bewerten. So zeigen in manchen Ländern, wie etwa Litauen, die Arbeitslosenstatistiken keinen geschlechtsspezifischen Unterschied bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Dagegen ist in anderen Ländern, wie etwa der Slowakei, die Arbeitslosenrate bei den Frauen um ein Drittel höher als bei den Männern.
In Bulgarien schreibt zwar die Verfassung die Gleichheit von Männern und Frauen vor, aber es existieren keine konkreten gesetzlichen Vorgaben und Institutionen, die die dieses Verfassungsgebot in die Praxis umsetzen. Rumänien hat zwar rechtliche Fortschritte erzielt bei der Gleichstellung der Geschlechter. Im Alltag sind jedoch Frauen sehr viel stärker vom Ausschluss aus der Gesellschaft betroffen als Männer. Zudem gibt es keine Gleichheit bei den Löhnen und Aufstiegschancen. Dies trifft auch für andere Länder zu - wie etwa Polen, Ungarn und Lettland. Andererseits ist die polnische Gesetzgebung in mancherlei Hinsicht sehr fortschrittlich. Was beispielsweise die Länge des Mutterschutzes anbelangt, rangiert Polen auf Platz zwei in Europa. Außerdem ist die Ausbildung der Frauen sehr gut. Gleichzeitig gibt es für sie klare Benachteiligungen. So ist beispielsweise die offene Diskriminierung bei der Ausschreibung von Arbeitsplatzangeboten zulässig. Außerdem wurde nach dem Fall des Kommunismus u.a. in Polen das Recht der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung durch ein rigides Abtreibungsrecht stark beschnitten.
Eine besondere Situation findet sich in der Türkei. Hier gebietet das Gesetz keine gleichen Chancen für Männer und Frauen. Vielmehr gilt der Mann rechtlich noch immer als "Kopf der Familie". Im Alltag stellt sich die Situation der türkischen Frauen sehr unterschiedlich dar. Einerseits gibt es sehr gut ausgebildete Frauen sowie Frauen in Führungspositionen. Andererseits kann jede vierte Frau in der Türkei weder schreiben noch lesen. Zum Vergleich: Bei Männern beträgt die Analphabetenrate ca. sechs Prozent. Außerdem ist die häusliche Gewalt gegen Frauen ein weit verbreitetes und ernstes Problem. Hinzu kommt, dass als Rechtfertigungsgrund noch immer die so genannte "Verletzung der (männlichen) Ehre" gesellschaftlich akzeptiert ist.
Insgesamt lassen sich die Probleme der Frauen in den Beitrittsstaaten folgendermaßen
zusammenfassen: In den ehemals kommunistisch regierten Staaten haben die massiven
ökonomischen und sozialen Umwälzungen dazu geführt, dass die
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vielerorts gewachsen ist. So sank in
vielen Ländern der Anteil der Frauen in den Parlamenten. Er liegt heute
in nahezu allen Beitrittsstaaten weit unter dem EU-Durchschnitt. Weiterhin verschlechterte
sich die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Sehr viele Frauen verloren
ihren Job. Eine hohe Arbeitslosenquote und das Wegbrechen bzw. Fehlen guter
Kinderbetreuungsmöglichkeiten stellen inzwischen eine hohe Hürde für
die weibliche Erwerbstätigkeit dar. Diese leidet zudem in vielen Ländern
unter einer geringen gesellschaftlichen Anerkennung. Damit eng verbunden dürfte
wohl folgende Tatsache sein: Frauen sind in diesen Ländern meist schlecht
ausgebildet und haben vorwiegend schlecht bezahlte Jobs.
Weiterhin ist in nahezu allen Beitrittsstaaten die häusliche Gewalt ein weit verbreitetes Problem, das sich mit der Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse oftmals noch verstärkt hat. Beispiel Slowakei: Im Vergleich zu 1990 hat sich die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt verfünffacht - so die Statistik. Es ist zu bezweifeln, dass dieser Anstieg nur auf einem verstärkten Anzeigeverhalten beruht. Vielmehr macht er deutlich, dass der beste Kampf gegen häusliche Gewalt aus einem Mix von mehreren Maßnahmen besteht: Einrichtung von Frauenhäusern, Kampagnen zur Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit, gesetzliche Schritte gegen häusliche Gewalt sowie die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, die in diesem Bereich arbeiten. Daneben kommt es entscheidend darauf an, dass in den Beitrittsländern gesunde ökonomische und soziale Verhältnisse entstehen. Und dass der Aufbau einer demokratischen und toleranten Gesellschaft erfolgt.
Das in Europa derzeit wohl abscheulichste Phänomen ist der Handel mit
Mädchen und Frauen. Allein im Jahr 2000 wurden ca. 120.000 Mädchen
und Frauen aus Mittel- und Osteuropa in westeuropäische Bordelle verschleppt.
Dieser moderne Sklavenhandel stellt die gravierendste Form der Verletzung von
Frauenrechten dar. Um diese Art der organisierten Kriminalität zu bekämpfen,
bedarf es verstärkt politischer und rechtlicher Schritte: etwa die Ratifizierung
und Umsetzung des UN-Protokolls gegen Menschenhandel sowie die Verabschiedung
des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels durch den Rat.
Weiterhin sollten Fördermittel des PHARE-Programms gezielt dazu verwendet
werden, die Beschäftigungschancen von Frauen in ihren Heimatländern
zu erhöhen. Außerdem müssen in den betroffen Ländern Informationskampagnen
erfolgen, um Mädchen und Frauen für die Gefahr des Menschenhandels
zu sensibilisieren. Zudem müssen die Opfer besser geschützt werden.
So sollten sie nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt
werden. Denn dort laufen sie Gefahr, ihren Verschleppern und deren Gewalt erneut
zu begegnen. Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit zwischen Frauenorganisationen
in Mittel-, Ost- und Westeuropa, die sich mit dem Problem des Menschenhandels
befassen, gestärkt und gefördert werden.
Kritische Stimmen bemängeln, dass es die EU bislang versäumt hat, in den Beitrittsverhandlungen die gesellschaftliche Dimension des Gemeinschaftsrechts zu vermitteln. Diese Kritik betrifft auch die Gleichstellung der Geschlechter, denn diese ist mehr als "nur" ein geltendes rechtliches Gebot.
Dieses Defizit muss bei den noch laufenden Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien beseitigt und bei den möglicherweise künftigen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vermieden werden. Bei den zehn übrigen Staaten dürfte es wohl zu spät sein, um in den wenigen verbleibenden Wochen noch das Versäumte durch Verhandlungen nachzuholen.
Hier bleibt nur die Möglichkeit, dass die EU-Kommission als "Hüterin des EG-Rechts" ein besonderes Augenmerk auf die Verwirklichung der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Gleichstellung wirft. Gegebenenfalls kann und muss sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den betroffenen Staat einleiten. Damit dieses Instrument auch voll zur Geltung kommen kann, müssen die Frauen informiert werden, wie sie auch mit Hilfe der EU-Kommission ihre Rechte durchsetzen können. Dies gilt ebenso für die Hilfe durch den Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments.
Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Frauenorganisationen - als Expertinnen, Anwältinnen und Brücken zu den Frauen. Ihre Rolle sowie die Zusammenarbeit verschiedener nationaler Organisationen muss deshalb gestärkt werden.
Des Weiteren ist es notwendig, Verwaltungen und Unternehmen für das Thema "Gleichstellung" zu sensibilisieren. Um solche Kampagnen zu verwirklichen, sollten EU-Fördermittel - beispielsweise aus den PHARE- und DAPHNE-Programmen - gezielt und verstärkt eingesetzt werden. Außerdem müssen innerhalb der EU neue Mechanismen entstehen, die die Präsenz von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft und Politik erhöhen. Davon profitieren auch Frauen in den "alten" EU-Mitgliedstaaten, wo dieses Defizit ebenfalls noch immer besteht.
Eines ist klar, auch wenn es vielleicht vielen erst bei den Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei besonders bewusst werden wird: Die Gleichstellung ist eine
der wichtigsten sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre, selbst
sie wenn in den 15 "alten" Mitgliedstaaten noch lange nicht voll verwirklicht
ist. Darüber hinaus ist sie ein zentraler Wert, der die Kultur, den Geist
und die Identität einer Gesellschaft mitbestimmt und die Mentalität
der Menschen prägt.
Hiltrud Breyer ist für Bündnis 90/ Die Grünen Mitglied des Europäischen
Parlaments.