Einleitung zur Dokumentation "Elektronische Demokratie"
Von Olga Drossou
Die Entwicklung des Internet bleibt weiterhin ein umkämpftes Feld. Zwei aktuelle Beispiele sind bezeichnend: Unter dem ökonomischen Druck des Konkurrenten Internet-Explorer von Microsoft ist der WWW-Browser von Netscape an AOL verkauft worden. Dies ist ein weiterer Schritt zur Konzentration des Marktes, die schon jetzt Formen angenommen hat, gegenüber denen Regulierungsversuche von Regierungen oder Justiz sich teilweise ohnmächtig ausnehmen. Dies bezeugen auch die bislang ergebnislosen Diskussionen und rechtlichen Auseinandersetzungen um die übermächtige Stellung und die Praktiken des Microsoft-Konzerns in den USA. Auf der anderen Seite scheint sich die US-Regierung in den Verhandlungen über das "Wassenaar-Abkommen" nach langwierigem Streit u.a. mit der Bundesregierung durchgesetzt und eine strenge Regulierung von Verschlüsselungsprogrammen für Computerdaten erreicht zu haben. Analog der Kriegswaffenexportkontrolle schränken hier staatliche Kontrollansprüche die gesellschaftlichen Interessen an informationeller Selbstbestimmung und ungehinderter Kommunikation privater und geschäftlich sensibler Daten ein. Im Widerstreit divergierender Interessen zwischen Staat und BürgerInnengesellschaft, aber auch zwischen wirtschaftlicher Macht und politischer Kontrolle können sich die Stimmen kein Gehör verschaffen, die die demokratische Gestaltung der neuen Informations- und Kommunikations-technologien einfordern - doch es gibt sie.
"Elektronische Demokratie" – unter diesem Schlagwort werden sehr unterschiedliche Diskussionsstränge und Fragestellungen zusammengefaßt. Daß es um den demokratisch legitimierten Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehen soll, ist hier der kleinste gemeinsame Nenner. Darüber hinaus läßt sich ahnen, daß unser kulturelles und zivilisatorisches Selbstverständnis durch die neuen Möglichkeiten der interaktiven Medien - ähnlich wie seinerseits durch die Möglichkeiten des Buchdrucks - revolutioniert werden. Ob dieses wünschenswert ist und wie die nächsten Schritte gestaltet werden müssen, ist ebenso umstritten wie die Standpunkte vielfältig sind. So gibt es Beiträge aus Bürgerinitiativen und Neuen Sozialen Bewegungen, aus Gewerkschaften und Parteien, und nicht zuletzt eine immer stärkere Befassung auch innerhalb der Wissenschaft, sei es der Informatik oder den unterschiedlichen Sozialwissenschaften von der Politikwissenschaft über die Medienwissenschaft bis zur Technikforschung. Je nach Herkunftsland, politischem Hintergrund oder soziokulturellem Milieu fallen nicht nur die Antworten, sondern auch schon die Fragen unterschiedlich aus.
Durchgängig wird allerdings deutlich, daß nur in den seltensten Fällen unter "Elektronische Demokratie" eine bloße Technisierung der etablierten Verfahren repräsentativer Demokratie verstanden wird. Vielmehr geht es um die Möglichkeiten, neue Formen der Kommunikation und Partizipation im Gemeinwesen zu entwickeln, die oft genug quer zu einer Gegenüberstellung von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie liegen. Die in dieser Textsammlung dokumentierten Projekte loten die Möglichkeiten aus, die Computernetze für die Vernetzung von Neuen Sozialen Bewegungen, für die Präsentation und Debatte innerhalb von politischen Organisationen und für ‘local community networks’ bieten.
Zur Vorgeschichte dieses Readers waren zwei Ereignisse maßgeblich: zum einen der Abschluß der Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestags unter dem Titel "Zukunft der Medien – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" und zum anderen der Kongreß "Machtfragen der Informationsgesellschaft", ausgerichtet von der Initiative Informationsgesellschaft – Medien – Demokratie (IMD).
- Die Enquete-Kommission, eingerichtet Anfang 1996 auf Antrag der damaligen Oppositions- und heutigen Regierungsparteien, hat sich zwei Jahre lang mit einem sehr breiten Spektrum von Themen beschäftigt. Dabei wurde von den damaligen Mehrheitsparteien das Thema "Elektronische Demokratie" soweit von der Agenda ausgeschlossen, daß die VertreterInnen von Bündnis 90/Die Grünen zusätzlich zum Abschlußbericht der Kommission dieses Thema u.a. in einem eigenen Minderheitenvotum aufgegriffen und hierzu Empfehlungen formuliert haben.
- An dem Frankfurter Kongreß der Initiative Informationsgesellschaft-Medien-Demokratie (IMD) "Machtfragen der Informationsgesellschaft" im Juni 1998 beteiligten sich die grün-nahen Stiftungen, Heinrich Böll Stiftung Hessen e.V. und die niedersächsischen "Stiftung Leben und Umwelt" mit dem Forum "Elektronische Demokratie – wozu?" mit der Absicht, die von der Enquete-Kommission ausgelassenen Fragen weiter zu verfolgen.
Die Beiträge in diesem Reader sind in Zusammenhang mit diesem Kongreß entstanden:
Hans J. Kleinsteuber setzt sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis von Demokratie und Technik auseinander. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Enquete-Kommission moniert er die spezifisch deutsche Schwerfälligkeit bei der Erprobung der neuen Informationstechnologien - auch im Hinblick auf die Demokratisierung des parlamentarischen Systems.
Die folgenden Beiträge nehmen Bezug auf einen Bereich, der sich unabhängig vom Internet entwickelte, allerdings historisch die Pionierarbeit zur Erschließung von Computervernetzungstechniken für das alternative Spektrum und die Neuen Sozialen Bewegungen geleistet hat: die Mailboxszene. Gabriele Hooffacker gibt einen Überblick über deren Geschichte und Aktivitäten am Beispiel des Computernetzwerks Linksysteme. Ihre Darstellung wird ergänzt durch einen kritischen Beitrag von Bernhard Albert zum Stand der BürgerInnennetze, in dem er Probleme der Professionalisierung und der sich verändernden Nutzungsgewohnheiten benennt, die die etablierten Interaktionsmuster von Geben und Nehmen aufzulösen drohen.
Daß die technische Infrastruktur keine ausreichende Voraussetzung für eine demokratische Techniknutzung und –gestaltung bietet, darauf lenkt Rena Tangens den Blick und entwirft einen emanzipatorischen Begriff von ‚Medienkompetenz‘. Diese wird nicht instrumentell reduziert auf die bloße Fähigkeit, eine Maschine zu bedienen, sondern im Dialog mit anderen entwickelt als Fähigkeit, Medien orientiert an menschlichen Bedürfnissen zu benutzen.
An die Betrachtungen über Mailboxen und ihre Bedeutung für politische Vernetzung schließen sich zwei Beiträge an, die populäre Anwendungen des Internet beispielhaft auf ihre Bedeutung für politische Organisationen überprüfen. Heike Garbe und Ekkehard Jänicke haben die Websites politischer Parteien untersucht. Was schon Rilling in seinem Aufsatz allgemein konstatiert, belegen sie konkret mit ihren Fallstudien: Nach anfangs ungeregelter Webpräsentation, die in hohem Maße von einzelnen Begeisterten initiiert wurde, wird das Auftreten der Parteien im WWW mit seiner wachsenden Nutzung immer stärker professionalisiert und stärker zentral kontrolliert; das Web gerät immer mehr zu einer getreuen Wiedergabe von gesellschaftlichen Strukturen. Das kommt auch in der Erwartung der Parteien zum Ausdruck, daß sie gemäß ihrem Stimmenanteil Aufmerksamkeit für ihre Website erwarten werden. Die Angebote werden nur mehr konsumiert, eine Interaktivität entfällt. Scheint für das WWW das Ergebnis negativ auszufallen, zieht Markus Klima in seinem Aufsatz für e-mailgestützte Mailing-Lists eine positive Bilanz. Nach seiner Ansicht können Mailing-Lists im politischen Bereich besonders zur breiteren Diskussion und schnelleren Organisation genutzt werden.
Das letzte Drittel der Beiträge befaßt sich aus verschiedenen Richtungen mit Projekten, bei denen eine geographisch abgegrenzte Einheit ins Netz ‚gespiegelt‘ wird. Seine Erfahrungen mit der (inzwischen aufgelösten) ‚Internationalen Stadt Berlin‘ diskutiert Joachim Blank: Hierbei handelte es sich um ein künstlerisches Experiment, das eine Infrastruktur zur Selbstorganisation von unten zur Verfügung stellte. Technisch (weil webbasiert) und zeitlich (ab 1994) hatte die Internationale Stadt mit dem Verfall interaktiver Netzkultur zu kämpfen, offen bleibt aber die Frage, wie eine solche selbst organisierte Gemeinschaft erfolgreich konzipiert werden kann. Eine Teilantwort liefert Peter Mambrey, der, ausgehend von Diskussionen und Erfahrungen mit ‚local community networks‘ in den USA, Anforderungen an den Entwicklungsprozeß von lokalen Bürgernetzen unter den spezifischen Bedingungen in Deutschland formuliert. Einen zweiten Eindruck von Aktivitäten in anderen Ländern vermittelt der Beitrag von Stephen Coleman, der aus Großbritannien einerseits die Vorhaben der Blair-Regierung in bezug auf ‚Elektronische Demokratie‘ zusammenfaßt und andererseits die Fortschritte des Projekts "UK Citizens Online Democracy‘ vorstellt, das öffentlichen Debatten über einzelne Politikvorhaben auf lokaler, nationaler oder auch europäischer Ebene eine Plattform im Netz zur Verfügung stellt und neue Formen der BürgerInnenbeteiligung an der Politik erprobt.
Roland Wirth und Ronald Tost ergänzen diese Überlegungen zu ‘community networks’ um die Verwaltungsperspektive. Tatsächlich sind schon 95% aller deutschen Großstädte im Netz präsent, allerdings ohne dies mit einer übergreifenden Systematik und Diskussion zu verbinden. Um den Bürgerinnen und Bürgern via Internet einen besseren Kontakt zur Verwaltung zu ermöglichen, ob dies nun der Vorbereitung oder Vermeidung von Behördengängen dient oder den Zugriff auf komplexe Informationen in bezug auf politische Entscheidungen erleichtert – nach Wirth ist eine Anbindung an die allgegenwärtigen Bestrebungen zur Verwaltungsreform unerläßlich, um die ‚Schnittstelle zwischen BürgerInnen und Verwaltung‘ grundsätzlich neu zu ordnen. Untermauert werden diese Erkenntnisse durch die konkreten Erfahrungen aus der Beratung von Verwaltungen, die Tost zusammenfaßt. Er dokumentiert Beispiele, wie das Internet zur Information, für den Service und zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern genutzt werden kann.
Allen, die zum Gelingen des Forums beigetragen
und diesen Reader möglich gemacht haben, sei an dieser Stelle herzlich
gedankt.
Berlin, im Dezember 1998
Olga Drossou
Medienreferentin
Heinrich-Böll-Stiftung Hessen
e.V.