Matthias Eberling
Abstract
Die Gesellschaft befindet
sich in einem Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und
Wissensgesellschaft. Die damit verbundenen Veränderungen im Zeitmanagement
der Einzelnen in sozialen Zusammenhängen und ihre Folgen für
das Familienleben, die Freizeit, Ökologie und den Raumverbrauch werden
vom Autor untersucht. Es wurden in Fallstudienstädten qualitative
Interviews mit Fachleuten aus Wirtschaft, Handel, Verwaltung und Verbänden
sowie dem Sozial- und Kulturbereich geführt.
Soziale und ökologische
Folgen der Arbeitszeitflexibilisierung
"Zeit" ist eines der prägenden Paradigmen der Gegenwart: Ihre - scheinbare - Knappheit und ihre damit verbundene Kostbarkeit als Ressource prägen das Wirtschaftsgeschehen und das alltägliche Leben. Jenseits aller philosophischen Konnotationen ist Zeit vor allem als Instrument zur Koordinierung von gesellschaftlichen Abläufen von Interesse. Jede Gesellschaft hat spezifische Zeitstrukturen und Synchronisationsmethoden. Wir setzen uns und anderen Termine und Fristen, Uhr und Kalender sind dabei die Meßinstrumente unserer Zeitdisziplin. Diese Strukturen und Methoden bilden das Zeitgefüge oder die Zeitordnung einer Gesellschaft, mit denen sich wiederum Normen und Sanktionen verbinden. Die Zeitstrukturen moderner Gesellschaften sind durch staatliche Rahmensetzung (z.B. Arbeitszeitgesetzgebung, Festlegung der Schul- und Semesterferien sowie der Ladenöffnungszeiten, Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe), durch sozioökonomische Elemente (z.B. tatsächliche Arbeits-, Betriebs und Öffnungszeiten) und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Rhythmen sowie natürliche Rhythmen (Tag und Nacht, Jahreszeiten, Vegetations-, Reproduktions- und Biorhythmen) geprägt.
Gegenwärtig befinden sich die entwickelten Gesellschaften in einem Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Aus der Zeitperspektive stellt sich dieser Prozeß als Zeitstrukturwandel dar. Symptome dieser Entwicklung sind die Flexibilisierung der Arbeits- und Betriebszeiten und der Arbeitsverhältnisse, die zunehmende Komplexität sozialer Synchronisation und die Veränderung gesellschaftlicher Rhythmen. Der Anteil der Beschäftigten in sog. "Normalarbeitsverhältnissen" schrumpft, der Anteil abweichender Arbeitsverhältnisse (Nacht-, Schicht-, Wochenend- und regelmäßiger Mehrarbeit) steigt von Jahr zu Jahr und weitet sich auf andere Wirtschaftsbereiche aus. Ebenso wächst der Anteil geringfügiger und prekärer Beschäftigungsverhältnisse, der Leiharbeit und befristeter Arbeitsverträge.
Auslöser dieser Entwicklung sind
Trotz der Polemik vom "Freizeitpark Deutschland", trotz hoher Arbeitslosigkeit und gesunkener durchschnittlicher Lebensarbeitszeit ist die Bundesrepublik eine Arbeitsgesellschaft geblieben. Die ökonomischen Taktgeber, Arbeits-, Betriebs- und Öffnungszeiten, beeinflussen stark die städtischen Rhythmen. Verkehrsrhythmen sind in erster Linie durch den Berufsverkehr geprägt, der Energieverbrauch von Privathaushalten und Unternehmen ist durch den Wechsel von Arbeitszeit bzw. Betriebszeit und Freizeit bestimmt, wir organisieren unsere privaten Termine um die Kernzeiten unseres Berufslebens herum.
Ein konkretes Beispiel für den Wandel von Zeitstrukturen ist die Einführung der Vier-Tage-Woche bei Volkswagen und die Flexibilisierung der Arbeits- und Betriebszeiten ("VW-Modell"). Wolfsburg ist eine Kommune, die als Industriestadt im Takt eines Automobilwerkes schlägt, so daß die Planbarkeit von Zeit durch das "atmenden Unternehmen" VW für alle Beteiligten abgenommen hat. Im Kontrast dazu sind die anderen ausgewählten Fallstudienstädte (Bonn, Karlsruhe und Münster) durch ihre mittelständische Struktur, ihre - privaten und öffentlichen - Verwaltungen bzw. Verwaltungssitze und ihre Universitäten geprägt. Eine zweite Unterscheidung ist die Zusammensetzung der spezifischen Taktgeber: Wolfsburg hat mit dem dominierenden VW-Konzern eine Taktgeber-Monostruktur, die anderen Städte weisen hingegen eine diversifizierte Taktgeberstruktur auf. Die Auswahl der Fallstudienstädte ermöglichte es, den Wandel von Zeitstrukturen in ihrer Wirksamkeit auf Stadtraum und Bevölkerung zu betrachten und gibt darüberhinaus erste Hinweise, in welcher Form und mit welchen Folgen sich der Wandel von der industriellen zur nachindustriellen Zeitordnung vollzieht.
Zur Umsetzung des Forschungsvorhabens wurden in den Fallstudienstädten eine große Zahl leitfadengestützter qualitativer Interviews mit Fachleuten aus Wirtschaft und Handel, Verwaltung und Verbänden sowie dem Kultur- und Sozialbereich geführt, um die begrenzte Menge an verfügbaren und geeigneten Strukturdaten zu ergänzen.
Ich möchte im folgenden
die wesentlichen Ergebnisse der Studie vorstellen und darüber hinaus
auch einige grundsätzliche Folgen der Beschleunigung, d.h. der Ökonomisierung
unserer Alltagswelt, skizzieren. Fallstudien und allgemeine Entwicklung,
Arbeitszeitflexibilisierung und Beschleunigung sollen hier also gemeinsam
betrachtet werden.
1. Familie - soziale
Folgen
Die Ausdifferenzierung individueller
Zeitmuster, hauptsächlich von Arbeitszeiten, führt zu sozialer
Desynchronisation und damit zu sozialen Problemen. Die Zeiten einer mehrköpfigen
Familie sind immer seltener deckungsgleich. "Pinnbrett-Familien" sind ein
Phänomen dieser Entwicklung. Die Koordination von Zeiten wird aufgrund
der zentrifugalen Kräfte der Flexibilisierung und Individualisierung
von Zeit immer schwieriger und potentiell immer technikabhängiger
(Handy, Anrufbeantworter usw.).
Beispiel Kinderbetreuung: Je flexibler und damit unplanbarer Zeit für die Eltern wird, desto schwieriger ist die Erhaltung einer konstanten Betreuung. Kinder brauchen feste Zeiten, so wie sie einen festen Kreis von Bezugspersonen brauchen. Sie dürfen nicht zu unterschiedlichen Zeiten in wechsenden Gruppen untergebracht werden, da sie nicht so flexibilisierbar wie Erwachsene sind. Je weiter sich die Zeiten ausdifferenzieren, desto schwieriger wird es auch, einen Betreuungsplatz zu finden. Wer nach 18 Uhr arbeiten muß, steht vor dem Problem, diese Betreuungszeiten kindgerecht abzudecken. Wenn dies nicht in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis möglich ist, müssen Betreuungsleistungen am Markt eingekauft werden - ein Beispiel für die Externalisierung von Zeitkosten.
Diese flexible Handhabung der Arbeitszeiten erfordert also den zeitlich und räumlich hochflexiblen Arbeitnehmer. Eine Familie ist da eher hinderlich, die Tendenz zu einer familien- und kinderfeindlichen Arbeitszeitorganisation somit offensichtlich. Hinzu kommt, daß typische Frauenberufe wie Verkäuferin, Kellnerin, Arzthelferin oder Krankenschwester aufgrund ihrer Arbeitszeiten keine Mütterberufe sind. Und auch die Teilzeitarbeit, ursprünglich für Frauen mit Kindern gedacht, verändert sich unter dem Druck der schwierigen Arbeitsmarktverhältnisse: weg von der klassischen Vormittagsteilzeit hin zu Arbeitszeiten, deren Lage und Dauer nicht an den Bedürfnissen der Beschäftigten ausgerichtet ist. Der hohe Anteil von Frauen in Berufen mit "abweichenden" Arbeitszeiten läßt sie gerade in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit als eine "Reservearmee" für unattraktive Arbeitszeiten erscheinen.
Die Flexibilisierung der
Arbeitszeit erschwert wiederum die Flexibilität der Reaktion auf unerwartete
Anforderungen der Familie: das Kind erkrankt, in der Schule fallen Unterrichtsstunden
aus, auch die Ferienzeit will von Seiten der Eltern bewältigt werden.
Die Synchronisation des Familienlebens wird so immer mehr zur Zerreißprobe,
an der häufig Ehen und Beziehungen zerbrechen. Besonders Kinder leiden
unter der Zeitnot der Eltern. Eine solche Desynchronisation der Familie
wird in einer aktuellen Studie der Universität Bielefeld zum Thema
Jugendkriminalität als eine der Ursachen für die wachsende Desintegration
der Gesellschaft und somit für die steigende Gewalt und Kriminalität
im Ju-gendalter verantwortlich gemacht: "Zeit bekommt durch Zerstückelung
problematische Züge; die Probleme von Kindern und Jugendlichen, ihre
Nöte und Wünsche werden vorrangig in die von den flexibilisierten
Erwachsenen übriggelassenen Zeitlücken hineingestopft. Nöte,
Probleme, Ängste dulden aber nun mal keinen Aufschub oder sie werden
zerstörerisch verarbeitet, gegen sich selbst und andere" (Heitmeyer).
2. Freizeit, soziales
Engagement
Die Flexibilisierung von
betrieblichen Zeiten führt auch zu abnehmender Planbarkeit z.B. von
Weiterbildung, von gesellschaftlichem Engagement, von Privatleben usw.
Die Bindung an Vereine wird in allen Fallstudienstädten instabil,
insbesondere die zeitliche Bindung lockert sich zusehends. Flexible Kursangebote
werden einer dauerhaften Mitgliedschaft häufig vorgezogen. Die Individualisierung
von Zeiten leistet auch den Individualsportarten Vorschub und verstärken
den Trend zu "organisationsfreiem" Sport (Jogging, Inline-Skating, Mountain-biking).
Die Zahl der kommerziellen Freizeitanbieter wie Fitness-Studios mit ihren
weiten Zeitrahmen nimmt zu, während kommunale Anbieter häufig
nur in der "klassischen" Freizeit, am Nachmittag, am Abend und am Wochenende
also, Angebote machen. Die Vereine reagieren auf diese Entwicklung mit
einer inhaltlichen und zeitlichen Ausdifferenzierung ihres Sportangebots.
Analog zu diesem Prozeß lösen auch an den Volkshochschulen Kompaktseminare
und Crash-Kurse die herkömmlichen Kurse über ein oder mehrere
Semester ab. Das Zeitfenster der Bildungsangebote wurde ebenfalls erweitert
und die Planungs- und Anmeldefristen verkürzt, was zu einer Flexibilisierung
des Angebots führt. Gewerkschaften wie die HBV berichten von massiven
Problemen der Koordination der ehrenamtlichen Mitarbeiter, da die neuen
Ladenöffnungszeiten ein Zusammentreffen der Ortsgruppen und Gremien
am Abend und am Samstag erschweren.
3. Verkehr und Energie
- ökologische Folgen
Die Individualisierung von
Arbeitszeiten führt zu einer Individualisierung des Verkehrs. In Wolfsburg
hat die Ausdifferenzierung der Arbeits- und Betriebszeitmuster zu einer
drastischen Reduzierung des öffentlichen Nahverkehrs geführt.
Die "Fahrgemeinschaft Bus" zerbrach ebenso wie viele private Fahrgemeinschaften.
Die Zahl der Abonnenten sank nach Einführung des "VW-Modells" von
7.000 (1992) auf 3.000 (1996), ganze Berufsverkehrslinien wurden eingestellt,
25 Busfahrer mußten umgesetzt werden. Die Ausdifferenzierung der
individuellen Arbeitszeitmuster führt zudem zu einer Entzerrung des
Verkehrs, was wiederum die Attraktivität des Pkw erhöht. Münster
mit seinen vergleichsweise homogenen Zeitstrukturen konnte den ÖPNV-Anteil
erheblich steigern, der Pkw-Anteil ist hingegen leicht rückläufig
(1982-1995 ÖPNV von 6,6 auf 9,5%, Pkw von 39,2 auf 37,2%). Die Veränderung
des Arbeits- und Betriebszeitregimes hat also in erheblichem Maße
die Verkehrsströme und die Verkehrsmittelwahl beeinflußt.
Eine Verstetigung der Aktivitätsmuster, die Ausweitung des Zeitrahmens urbaner Aktivitäten erhöht den Energieverbrauch. Es ist zu vermuten, daß mit der weiteren Ausdifferenzierung individueller Zeitmuster auch die gemeinsame Nutzung z.B. von Heizwärme, Küchen- und Unterhaltungsgeräten usw. an Bedeutung verliert. So hat beispielsweise im Zuge der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten der Energieverbrauch gerade zwischen 19 und 20 Uhr signifikant zugenommen (Karlsruhe). Die ausdifferenzierten Arbeits- und Betriebszeitmuster haben also durchaus auch ökologisch bedenkliche Folgen.
Ganz grundsätzlich wirkt sich der, ökonomisch induzierte und perpetuierte, Zeitdruck unmittelbar auf Pflanzen und Tiere aus. Der Mensch beschleunigt als Taktgeber die Eigenzeiten der Natur durch Zuchtwahl, Gentechnik oder schlicht durch technische Tricks (wie etwa die fast durchgehende, künstliche Beleuchtung in Hühnerfarmen, die den natürlichen Taktgeber Sonne durch den künstlichen Taktgeber Glühbirne ersetzt und die Legeleistung der Hennen erhöht). Mit der Züchtung von Haustieren und Nutzpflanzen übernimmt der Mensch die Steuerung des natürlichen Selektionsprozesses und beschleunigt mit der Kontrolle der Auslese die Entwicklung einer Art in die von ihm gewünschte Richtung. Im Zuge der Entwicklung gentechnischer Manipulationsmöglichkeiten gerät neben dem Evolutionsfaktor Selektion auch der Faktor Mutation in den Bereich menschlicher Gestaltung. Beide biotechnischen Revolutionen erhöhen die Geschwindigkeit der Evolution jeweils um den Faktor 10.000.
Arbeitszeitveränderungen und der Wandel gesellschaftlicher Rhythmen wirken sich mittelbar auf die Umwelt und damit wiederum auf die Lebensqualität für den Menschen aus: Der Energieverbrauch erhöht sich nicht nur durch die Individualisierung der Gesellschaft, sondern auch durch die Ausdehnung von Betriebs- und Öffnungszeiten, der im Regelfall auch zu einer erhöhten Abgabe von Emissionen in die Umwelt bzw. verbunden ist. Auch die Technisierung sozialer Abstimmungsleistungen (Mobiltelephon, Fax, E-Mail) ist aus ökologischer Sicht problematisch. Es ist ferner zu vermuten, daß der Wegfall zeitlicher Ruhezonen (Nacht, Wochenende) und Erholungsphasen, die Mißachtung tierischer Reproduktions- und Wanderungszyklen und der Vegetationszyklen zu einem Rückgang der Artenvielfalt und zu einer Verschlechterung des Zustandes der Umwelt, letztlich also auch von städtischen Grünanlagen und stadtnahen Erholungsgebieten, führt. Dieser Verlust an genetischer Vielfalt hat zudem eine ansteigende Fragilität der Umwelt zur Folge. Damit steigt langfristig wiederum der externe Steuerungs- und Synchronisationsbedarf natürlicher Abläufe.
Andererseits würde sich
mit der fortwährenden Zerstörung unserer Lebensumwelt auch der
Freizeitverkehr zu den noch unzerstörten Gebieten (unberührte
Gebiete werden sich schwer finden lassen) und damit wieder die Vernutzung
bzw. Verschmutzung der Umwelt erhöhen. Die weitere Deregulierung und
Desynchronisierung gesellschaftlicher Zeitmuster können sich also
als weiterer Streßfaktor für das ökologische System erweisen.
4. Raumverbrauch
Räumliche Folgen sind
die Beschleunigung von Flächennutzungszyklen, die Spezialisierung
von Raumnutzung und ein steigender Flächenverbrauch. Moderne Transporttechnologien,
unabdingbar für eine Vernetzung der Betriebe "just in time", erfordern
spezifische Bewegungsflächen, die ausschließlich dieser Funktion
zugeordnet sind. Die permanente Zunahme versiegelter Flächen durch
den Straßenbau ist dafür nur ein Beispiel. Als neue Runde der
Beschleunigung und der rasant wachsenden Mobilität gilt der Flugverkehr
und in seiner Folge der expandierende Flughafenbau. Aufgrund ihres immensen
Flächenbedarfs und der Unbewohnbarkeit ihrer unmittelbaren Umgebung
liegen Flughäfen außerhalb der Städte. Ein Beispiel: Der
neue Flughafen in Dallas mit seinen geschätzten 100 Millionen Passagieren
jährlich beansprucht eine Fläche, die dem Stadtraum von Paris
entspricht. Mit dem Bedeutungszuwachs nicht nur von Flexibilität,
sondern auch von Mobilität werden die Verkehrsflächen und die
Bedeutung der Verkehrszentralität, der zeiträumlichen Nähe
zu Autobahnanschlüssen, ICE-Bahnhöfen und Flughäfen also,
weiter zunehmen. Man denke in diesem Zusammenhang an bereits die erwähnte
Individualisierung des Verkehrs. Auch die Zeitstabilität der Raumnutzung
nimmt ab, Flächen werden schneller benötigt und auch wiederum
schneller verbraucht. Ein Beispiel: In Wolfsburg baut inzwischen die Kommune
den VW-Zulieferern Werkhallen, da der Konzern nur noch modellbezogene Verträge
über einen Zeitraum von wenigen Jahren abschließt. Eine selbständige
Ansiedlung wäre also aufgrund der abnehmenden Zeitstabilität
der ökonomischen Beziehungen nicht mehr rentabel. Wie diese Gewerbefläche
in zehn Jahren aussehen wird, bleibt in höchstem Maße ungewiß.
Der Raum verliert als Faktor gegenüber der Zeit an Bedeutung. Technische Innovationen wie das Telefon bzw. das Telefonnetz oder der Computer bzw. das Computernetz haben unsere Kommunikation, aber auch unser Erleben und unser Verständnis von Raum und Zeit verändert. Die Geschwindigkeit unserer geistigen und körperlichen Fortbewegungsmittel lassen den Raum nurmehr als Hindernis erscheinen, das es zu überwinden gilt. Mit technischen Mitteln läßt sich die Bedeutung von Raum reduzieren, da die Erreichbarkeit von Personen und Informationen raumunabhängig wird. Telearbeit ermöglicht es beispielsweise, von zuhause aus berufstätig zu sein. Die Standortbindung von Unternehmen wird flüchtiger. Raum wird künftig sicher noch stärker unter Bewegungsaspekten betrachtet und benutzt.
5. Schlußfolgerungen
Welche konkreten Schlußfolgerungen
lassen sich ziehen?
Gerade für Frauen wäre
die Vereinbarkeit von Familie bzw. Kind und Beruf entscheidend. Man könnte
es ebenso gut ökonomisch fomulieren: Zeitinvestitionen in das Humankapital
Kind sowie Zeitinvestitionen in die sozialen Beziehungen, die dieses Humankapital
erzeugen und erhalten, sind notwendige Voraussetzungen für die Stabilität
des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs - inklusive des Teilsystems
Ökonomie. Für diese Form der Investition gibt es kaum verläßliche
Indikatoren (abnehmende Geburtenraten sowie Kriminalitäts- oder Suizidraten
von Kindern und Jugendlichen geben nur einen mittelbaren Eindruck der Problematik),
es sind jedoch gerade solche Investitionen, die forciert und gefördert
werden sollten.
Wesentlich wäre auch die Festlegung verbindlicher und verläßlicher Schul- bzw. Betreuungszeiten. Dabei wäre die Ganztagsschule bzw. die volle Halbtagsschule inklusive Über-Mittag-Betreuung ein wichtiges Instrument. Freistunden und Ferienzeiten erzwingen häufig eine Betreuungsflexibilität, die die Eltern überfordert. Eine sozialverträgliche Synchronisation von Zeiten wäre also für alle Beteiligten sinnvoll.
Für die Natur gilt: Wir brauchen nicht nur Biotope als räumliche Schutzzonen der Umwelt, sondern auch Chronotope als zeitliche Schutzzonen. Hierzu gehört selbstverständlich eine Reduzierung des Raumverbrauchs bzw. eine Nutzungsmischung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht.
6. Ausblick
Wie wir sehen konnten, wird
die Organisation von Zeit komplexer. Timing wird - ob in der Arbeitswelt
oder im alltäglichen Leben - immer wichtiger und entscheidender. Die
gegenwärtige Ablösung der Industriegesellschaft mit ihrer Massenpoduktion
und ihren Großbetrieben, deren riesige Belegschaften im gleichen
Takt arbeiten, von der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften, die
flexible, individuelle Zeitmodelle fordert, stellt auch in zeitlicher Hinsicht
einen Strukturwandel dar. Die Wirkungen dieser Entwicklung auf Bevölkerung
und Stadt, auf Verkehr und Energie, auf Umwelt und die Wahlmöglichkeiten
kommender Generationen sind bisher im Zusammenhang mit der Gestaltung von
Zeiten viel zu wenig berücksichtigt worden. Wenn es um die Organisation
von Arbeitszeiten, Betriebszeiten oder Öffnungszeiten geht, sollten
diese Aspekte zukünftig stärker in den Vordergrund treten.
Aufgrund dieser Entwicklung brechen Zeitkonflikte in der Gesellschaft auf. Analog zur Entwicklung eines Umweltbewußtseins und eines Politikfeldes "Umwelt" in der Folge der Externalisierung von Umweltkosten und zunehmender Umweltprobleme entwickelt sich - vor dem Hintergrund externalisierter Flexibilisierungskosten in der Arbeitswelt - ein kritisches Zeitbewußtsein. Es ist daher notwendig, ein politisches Handlungsfeld "Zeitpolitik" zu konzipieren und umzusetzen. Hierbei steht die Stärkung kooperativer Ansätze im Vordergrund, um die Gestaltung von Zeiten nicht dem Selbstlauf ökonomischer Prozesse oder administrativen bzw. etatistischen Eingriffen ("von oben") zu überlassen. Auf kommunaler Ebene hieße das, Zeitnöte und -konflikte zu erkennen und Zeit, unter Einschluß aller relevanten Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft, aktiv, bewußt und demokratisch zu gestalten. Leitbild einer solchen Politik sollte der Ausgleich divergierender Zeitinteressen und die Erhaltung bzw. Herstellung einer, in sozialer und ökologischer Hinsicht, zukunftsfähigen städtischen Zeitstruktur sein. Diese Zeitinteressen sind bisher ausschließlich im Bereich der Arbeitszeitpolitik in Gestalt der Tarifparteien institutionalisiert. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften bieten sich also als Teilnehmer, nicht jedoch als neutrale Vermittlungsinstanz an. Die Kommunen selbst - oder die Wissenschaft - wären mögliche Moderatoren und Mediatoren. "Zeit" als neues Thema und Handlungsfeld liegt quer zu herkömmlichen Ressortgrenzen und Akteurskonstellationen, sie böte somit auch die Möglichkeit eines Neuentwurfs von Politik jenseits ausgetretener Pfade.
In diesem Zusammenhang stehen wir in der Bundesrepublik noch am Anfang der Entwicklung. Während in Italien beispielsweise die kommunale Zeitplanung und Zeitpolitik seit etwa zehn Jahren umgesetzt wird, es in den meisten großen Städten bereits Büros oder gar Ämter für die Koordination städtischer Zeiten gibt, sind in der Bundesrepublik 1997 das erste Zeitbüro (Bremen-Vegesack) und ein erster Tisch zur kommunalen Zeitgestaltung (Hanau) ins Leben gerufen worden. In Hamburg wurden in einem Projekt des Senatsamts für Gleichstellung die Zeitnachfrage von Frauen und die Zeitangebote innerhalb eines Stadtteils untersucht. Hamburg, Bremen und Hannover werden sich im Rahmen der EXPO 2000 als "zeitbewußte Stadt" präsentieren. Die bewußte gesellschaftliche Gestaltung von Zeit, die Überwindung der rein ökonomischen Betrachtung von Zeit als einem bloßen Tauschobjekt in Tarifverhandlungen, steht erst am Anfang.
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