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Wohin verkehrt Europa? Mobilität und Lebensstile im Europa der 25

Konrad Götz, Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE), Frankfurt am Main

- Bezug genommen wird auf das Thema Lebens- und Mobilitätsstile. Das Institut für sozial-ökologische Forschung untersucht seit etwa 10 Jahren den Zusammenhang zwischen Lebensstilen und Mobilität. Wir sprechen deshalb von Mobilitätsstilen (vgl. dazu Götz/Schubert 2004).
- Zunächst: Was ist der theoretische und gesellschaftliche Hintergrund? Statt von Klassen und Schichten sprechen wir heute von Lebensstilen und Milieus. Dass sich Lebensstile und Milieus heraus bilden, hängt mit dem Mega-Trend der Enttraditionalisierung zusammen. Alle offenen Gesellschaften, die Handlungsfreiheit und Individualisierung nicht nur zulassen, sondern fordern, enttraditionalisieren sich. Zum einen durch den marktwirtschaftlichen Kapitalismus, der eine stärker individualistische Orientierung fördert. Zum anderen durch die Offenheit dieser Gesellschaften, die einen aktiv von den Menschen betriebenen Prozess des Wandels der Grundorientierungen in Gang setzen (Frauenemanzipation, Individualisierung, eigene Lebensplanung, Möglichkeit, aber auch Zwang zur Selbstverwirklichung).
- Dieser Prozess des Übergangs zur Pluralisierung von Lebensstilen ist in der ganzen EU letztlich unvermeidlich.
- Die sozial-ökologische Forschung, wie wir sie am ISOE betreiben, geht davon aus, dass Lebensstile und Verkehrsverhalten, einen Zusammenhang aufweisen.
- Zum Beleg, dass dies so ist, soll zunächst, bevor es um die EU geht, kurz ein Beispiel für die Forschung über Mobilitätsstile dargestellt werden. Im Auftrag des deutschen Umweltbundesamtes hat das ISOE Mobilitätsstile bezüglich des Freizeitverkehrs untersucht. Ergebnis ist ein Modell, das in der folgenden Graphik dargestellt ist.


Was sagt uns diese Graphik? Wir haben fünf wichtige Gruppen gefunden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Lebensphase in der sie sich befinden, sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer finanziellen und Bildungsressourcen und vor allem hinsichtlich ihrer grundlegenden Einstellungen und Orientierungen. Auf der Ebene des Verhaltens, die wir ebenfalls untersuchen, zeigen sie signifikante Unterschiede im Freizeit- und im Verkehrsverhaltens.

Zunächst eine kurze Beschreibung der Gruppen:

Die Traditionell-Häuslichen:
Hier handelt es sich überwiegend um Ältere angehörige aus dem kleinbürgerlichen Milieu, für die Werte wie Nachbarschaft, Nähe und Häuslichkeit, aber auch Tugenden wie Sauberkeit, Disziplin, Ordnung immer noch handlungsleitend sind. Die Gruppe darf aber nicht mit den Älteren insgesamt verwechselt werden. Denn, wie jeder weiss: Es gibt die neuen Alten, die "golden greys", die wohlhabend sind und moderne Orientierungen mitbringen (Mick Jagger Generation).

Die Benachteiligten
Bei der Gruppe der "Benachteiligten" handelt es sich um die Verlierer in unserer Gesellschaft. Sozial Unterprivilegierte, deren einzig feststellbare Haltung eine gewisse Underdog-Einstellung ist und die ein instrumentelles Verhältnis zur Arbeit haben. Ansonsten ist allein ihre soziale Lage kennzeichnend. Sie hat den höchsten Anteil an ungelernten Arbeitern, sowie den höchsten Arbeitslosigkeits- und Sozialhilfeanteil aller Gruppen.

Die Belasteten-Familienorientierten
Diese Gruppe sucht überdurchschnittlich stark den Lebenssinn in der Familie, gerät dabei aber in einen Konflikt zwischen der Erwerbsarbeit und der Familie. In dieser Gruppe gibt es überdurchschnittlich viele doppelt belastete Frauen, denen es nicht gelingt, ihre Zeit so zu strukturierten, dass eigene Zeit für sie selbst übrig bleibt. Diese Gruppe ist gestresst und schafft es nicht, die verschiedenen Aufgaben zu trennen.

Die Modern-Exklusiven
Es handelt sich um eine Gruppe, die einerseits Distinktion und Exklusivität sucht, aber diese Haltung nicht mit einer Abgrenzung nach unten verbindet. Sie dürfen weder mit den klassischen Aufsteigern, noch mit den in den 80er Jahren sogenannten Yuppies verwechselt werden. Was nämlich auffällt: Sie zeigen ein Engagement für soziale Fragen, sie haben eine gewisse Sensibilität für die ökologische Problematik und sie haben die mit Abstand höchsten Werte beim politischen und ehrenamtlichen Engagement. Ein Typus, der auf den ersten Blick nicht den Klischees entsprechen zu scheint, der sich aber in unseren Untersuchungen häufiger zeigt.

Die Fun-Orientierten
Die Fun-Orientierten weisen vor allem sämtliche traditionellen Werte zurück. Sie stehen zu einem gewissen Egozentrismus, gehen gerne Risiken ein, wollen Spaß haben und verhalten sich gerne auch mal gegen die Vorschriften. Sie sollten aber nicht mit den "Hedonisten" verwechselt werden, nach denen in den 80er Jahren mal ein ganzes Milieu benannt worden ist. Denn, und das ist wichtig, sie verbinden Spaß mit harter Arbeit. In dieser Gruppe gibt es nicht nur das höchste Bildungsniveau und die meisten Studenten, sondern auch einen überdurchschnittlichen Anteil Selbständigen.

Mobilität
In Zusammenarbeit mit Willi Loose und Martin Schmied vom Öko-Institut Freiburg wurde in dem Projekt auch das Verkehrsverhalten der Gruppen untersucht. Schauen wir uns das Verkehrsverhalten in der Freizeit an, dann werden tief greifende Unterschiede deutlich.
Dabei ist interessant: Die Fun-Orientierten haben einerseits den höchsten Anteil an regelmäßigen Nutzern des ÖPNV, aber sie weisen auch die höchste Verkehrsleistung mit dem Auto auf. Das gilt nicht nur für die Wege in der Freizeit, sondern auch hinsichtlich der anderen Wegezwecke.
Interessant ist auch, dass sich die unterschiedlichen Lebensstilgruppen auch signifikant hinsichtlich ihrer Emissions-Bilanzen unterschieden. Unterschiedliche Lebensstil zeigen also unterschiedliche Umweltnutzungen.

Soweit das Beispiel aus der sozial-ökologischen Mobilitätsforschung, bezogen auf Deutschland. Für Europa liegen derartige Ergebnisse in einer Verknüpfung mit dem Verkehrsverhalten, (noch) nicht vor. Aber wir können empirisch gestützte Hypothesen aufstellen. Dazu fassen wir die verfügbaren Milieu- und Lebensstilmodelle (aus der Marktforschung des Sinus-Instituts, Heidelberg, von Sigma, Mannheim, aber auch aus der Nachhaltigkeitsforschung des ISOE) zusammen.
Auch wenn dieses Verfahren mit den Ansprüchen einer differenzierten Lebensstilforschung, die ja gesonderte Modelle für jedes Land entwickelt, aber auch mit einer sorgfältigen historischen Forschung eigentlich nur schwer vereinbar ist, soll ein solches Vorgehen, speziell für diese Veranstaltung, riskiert werden (es sollten auf dieser Basis auf keinen Fall allzu weit reichende Schlüsse gezogen werden). Wenn wir also trotzdem eine Art Zusammenfassung europäischer Lebensstile wagen, ergeben sich sieben große Lebensstil-Gruppen:

1. Traditionelle: Sie haben, mit Bezug auf die Wertorientierungen der jeweiligen Herkunfts- Gesellschaft, traditionelle, konventionelle oder kleinbürgerliche Orientierungen. Traditionelle Orientierungen gibt es sowohl in bäuerlichen Gruppen, wie auch unter Arbeitern und "kleinen Angestellten".
2. Moderner Mainstream: Sie stammen häufig aus traditionellen Milieus, suchen aber den Anschluss an das, was in der Gesellschaft als modern gilt. Sie versuchen, Ihre Bodenständigkeit mit einem gewissen Maß an Individualisierung, zu verbinden - diese Gruppe versucht, hinsichtlich des Lebensstandards mitzuhalten - das Auto ist ein wichtiges Symbol des erreichten Status.
3. Ambitionierte: Es handelt sich um Erfolgs- und aufstiegsorientierte Gruppen, die ihre traditionellen Wurzeln hinter sich lassen. Sie sind, insbesondere wenn es um neue Techniken und Verkehrsmittel geht, dynamisch und modern. Sie sind hinsichtlich dessen, was sich gehört oder "angesagt" ist, etwas unsicher, deshalb orientieren sie sich an Vorbildern aus erfolgreichen Vorbild-Milieus.
4. Experimentelle: Sie sind unangepasst, weisen traditionelle Werte vehement zurück und stehen zu ihrer Selbstbezüglichkeit. Ihr Individualismus und ihr individualistischer Eigensinn lässt sie kreativ sein. In Fragen der Alltagsästhetik sind sie häufig wirkliche trendsetter; neueste mikroelektronische Möglichkeiten nutzen sie intensiv und mit Erfindungsreichtum.
5. Intellektuelle: Sozialkritische Gruppen mit höherer Bildung, die häufig Wertorientierungen mitbringen, die in der Vergangenheit "postmateriell" genannt wurden: Sie leisten sich eine Kritik an der Konsumgesellschaft und sie integrieren des Thema Umwelt und Ökologie in ihr humanistisches Weltbild.
6. Unterprivilegierte Gruppen, die finanziell, aber insbesondere hinsichtlich der Teilhabe am Arbeitsmarkt, desintegriert sind. Es handelt sich um Sozialhilfe-EmpfängerInnen, schlecht gestellte Alleinerziehende, Deklassierte, Entwurzelte.
7. Etablierte: Nicht in allen (postsozialistischen) Ländern gibt es ein gewachsenes Bürgertum mit elitärem Selbstverständnis und weltläufigem Habitus. Aber dort, wo es diese Milieus gibt, bildet es ein wichtiges Netzwerk, das viel bewegen kann.

Die hier zusammengefassten Gruppen zeigen - das wissen wir aus der oben dargestellten Forschung über den Zusammenhang von Lebensstil und Verkehrsverhalten - jeweils unterschiedlichen Mobilitätsstile: Nicht nur, dass sie unterschiedliche Fahrzeuge fahren und Fortbewegungsmittel nutzen - sie weisen völlig unterschiedliche Verkehrsleistungen auf und legen völlig unterschiedliche Strecken zurück. Die Nutzung und die Aneignung des Raumes ist in hohem Maße heterogen. Der milieuspezifische Habitus zeigt sich auch im Verkehrsverhalten:
Die Traditionellen bewegen sich nahräumig und häufig zu Fuß, mit starkem Bezug zur Nachbarschaft. Die Experimentellen sind auch hinsichtlich der Verkehrsmittel experimentierfreudig - sie bewegen sich weiträumig mit Affinität zu den neuesten Verkehrs- und Informationstechniken. Die Ambitionierten sind ständig unterwegs und auf der Suche nach Chancen und Gelegenheiten. Der moderne Mainstream ist bedacht auf soziale Anpassung - das Zeigt sich auch in der Wahl des passenden Autos. Die Intellektuellen sind ökologischen Themen gegenüber aufgeschlossen und können für eine multimodal-pragmatische Fortbewegung gewonnen werden. Die Unterprivilegierten sind uneinheitlich. Für den einen Teil ist das Auto ein Symbol der sozialen Integration, das ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Der andere Teil dieser Gruppe macht aus der Not eine Tugend, lehnt das Autofahren ab und wird zu souveränen Nutzern öffentlicher Verkehrsmittel.
- Was bedeutet diese Vielfalt für ein zusammenwachsendes Europa? Zunächst einmal: Eine zunehmende Heterogenisierung des Verkehrsverhaltens. Eine Uneinheitlichkeit der Regelbefolgung, eine Pluralisierung der Verkehrsmittelwahl und große Geschwindigkeitsdifferenzen. Dazu kommen völlig unterschiedliche Straßenverkehrs-Sozialisationserfahrungen. Kurz: Riesige Unterschiede zwischen den Mobilitätsstilen.
- Was bedeutet es, wenn die motivationale Dimension und die hinter der Mobilität stehenden Lebensstile nicht erkannt werden? Was bedeutet es, wenn das Verkehrsverhalten ausschließlich nach den Paradigmen einer rationalen Distanzüberwindung analysiert und nach Regeln der Ökonomie gesteuert wird? Die Folge ist, dass die Planung sich von den realen Entwicklungen los koppelt. Die Verkehrsteilnehmer machen sich weit gehend ihre eigenen Regeln. Fußgänger und Radfahrer sind entweder Gejagte - oder sie gehen selbst auf die Jagd. Das automobile Leitbild dominiert.
- Dem gegenüber sollten die Regionen Europas zunächst voneinander lernen. Einen Vergleich der Mobilitätsstile und Mobilitätskulturen vornehmen. Dann könnten wir, könnte sich Europa mit einer neuen Mobilitäts- und Planungskultur anfreunden. Eine Sprache der Planung, die Mobilität nicht mehr (nur) ökonomisch-physisch definiert (als möglichst schnelle Raumüberwindung möglichst großer Massen), aber auch nicht einfach restriktiv. Die neue Planungskultur sollte vielmehr einen Interessenausgleich anstreben und auf kombinierte Mobilität setzen.
- Das Denken in Lebensstilen und Milieus würde zu einem zielgruppenspezifischen Umgang mit räumlicher und sozialer Mobilität führen. Dabei sollten die unterschiedlichen Instrumente der Planung, der Kommunikation, der Angebotsentwicklung - also "Regulation" und "Verlockung" - auf unterschiedliche Mobilitätsstile angewendet und so eine Zivilisierung des Verkehrs und der Städte erreicht werden.

Quellen:
Götz/Loose/Schmied/Schubert (2003): Mobilitätsstile in der Freizeit, Berlin
ISOE: www.isoe.de
SIGMA (2004): www.Sigma-online.de
SINUS-Sociovsion (2004): www.sinus-milieus.de

 

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