Die Rolle der Intellektuellen in der "Berliner Republik"
Von Micha Brumlik
Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg existiert in Deutschland eine politische Mehrheit für die Linke, der ja herkömmlicher Weise eine besondere Nähre zu den Intellektuellen nachgesagt wird. Doch dem Typus des Linksintellektuellen scheint auch in dieser Konstellation keine Renaissance bevorzustehen.
Die klassische Intellektuellenrolle, jenes in diesem Jahrhundert - von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, von Albert Camus und Simone Weil, von Theodor W. Adorno und der frühen Marie Ulrike Meinhof, von Herbert Marcuse und Noam Chomsky, von Antonio Gramsci und Emma Goldmann, von Heinrich Böll und Alexander Solschenyzin, von Rosa Luxemburg und Hannah Arendt - gelebte Ensemble aus moralischer Leidenschaft, dem Bemühen um gesellschaftskritische Analyse und dem Willen zum Engagement zielte stets auf Befreiung durch Erkenntnis. Sie setzte den Glauben an etwas voraus, was nach Einsicht der fortgeschrittenen, systemtheoretischen Sozialwissenschaft unmöglich ist: an ein umfassendes, auf einem privilegierten Beobachterstatus beruhendes Verständnis der Gesellschaft. Dieser Meinung der Systemtheorie mag man zustimmen oder nicht - für den spezifischen Fall der deutschen Nachkriegsintellektuellen und ihrer Zukunft wird man den Blick verengen und sich auf die Gegebenheiten dieses Landes und seiner Entwicklungen einlassen müssen. Auf den ersten Blick nämlich scheinen die Chancen für die Neubelebung des intellektuellen Diskurses gut zu stehen:
Mit der Bundestagswahl 1998 ist der lange Marsch durch die Institutionen, den die 68er - und das heißt eine Bewegung von Intellektuellen - vor dreißig Jahren angetreten haben, beendet. Mit der Bundestagswahl 1998 werden viele Aktivisten der Protestbewegung Rang und Würden erlangen sowie diesem Staat begrenzt ihren Stempel aufdrücken. Sie werden das im besten Frauen- und Mannesalter tun: im letzten Abschnitt ihrer Erwerbsbiographie, jenem Alter zwischen fünfzig und sechzig also, in dem Realitätssinn jugendliches Ungestüm abgelöst hat, aber noch nicht resignativer Altersweisheit oder querulierendem Greisenzorn gewichen ist. Den eigenen Idealen treu zu bleiben und gleichwohl verantwortlich zu handeln, ist dabei aller Freude am Gestalten zum Trotz nicht einfacher geworden. Eine vormals intellektuelle Linke greift in einem Augenblick nach der Macht, in dem sich die deutsche Bevölkerung mehr denn je für sich selbst und ihre unmittelbaren materiellen Interessen entschieden hat. Politiker wie damals Kohl und heute Schröder verdanken ihren Erfolg glaubwürdiger Durchschnittlichkeit sowie dem sicheren Eindruck, Fleisch vom Fleisch der kleinen Leute zu sein - ihrer etwa im Vergleich zu Francois Mitterand oder auch zu Willy Brandt ausdrücklichen Nicht- oder Antiintellektualität. Unabhängig von allen trivialen Wünschen nach einem Wechsel hat die Wählerschaft nämlich vor allem einen Kanzler fallen lassen, der sich von ihrem Alltag abgewendet und in die Geschichte verabschiedet hat.
Ob sich eine von einer intellektuellen Kultur getragene Bewegung in dieser Konstellation behaupten kann, ist mehr als fraglich. Dazu muß nicht erst auf die eigentümliche Rolle des durch eine Gesetzesänderung zum Staatsminister zu ernennenden Nichtabgeordneten, des Verlegers Michael Naumann, verwiesen werden. Gewiß: Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg existiert in Deutschland eine politische und gesellschaftliche Mehrheit für die Linke, der ja herkömmlicherweise eine besondere Nähe zu den Intellektuellen nachgesagt wird. SPD, Grüne und PDS haben zusammen deutlich mehr als fünfzig Prozent aller Stimmen erhalten.
Und dennoch: dem Typus des sogenannten Linksintellektuellen scheint auch in dieser Konstellation keine Renaissance bevorzustehen, ob sich an statt dessen so etwas wie eine liberale Intellektualität oder eine sich intellektuell gebende rechte Intelligenzija herausbilden wird, ist derzeit nicht abzusehen - ein paar dreißigjährige Publizisten, dieser oder jener jüngere Verleger und ein paar Zeitungsartikel machen noch keine intellektuelle Kultur aus. Auch dann nicht, wenn diese jüngeren Publizisten sich dem neoliberalen Zeitgeist zum Trotz einen Namen als Neoetatisten und Moralisten gemacht haben, die es gelernt haben, gefaßt und ernst, das, was zu kritsieren ist, zu kritisieren und dabei doch pragmatisch zu bleiben. Der Taufname, den eine liberale Wochenzeitung dieser erhofften Neuintellektualität geben wollte, zeigt die ganze Unsinnigkeit des Vorgehens: "Generation Berlin". Indem das, was eine Generation üblicherweise ausmacht - nämlich ihre Zeitgebundenheit - hier durch eine geographische Angabe ersetzt wird, so, als ob die Angabe eines Ortes schon eine historische Einbettung bezeichnet, wird der Wunsch zum Vater des Gedankens und der Name Berlin ex ante zum Namen für eine Epoche. Freilich: in geistigen Dingen sind Worte alles, und auch Wünsche und Projektionen haben hier ihren legitimen Ort - weswegen kurz auf das einzugehen ist, was sich hinter dem zum Begriff gewordenen Namen "Berlin" verbergen könnte.
Mit dem immer wieder kritisierten und sich gleichwohl einbürgernden Namen "Berliner Republik" läßt sich
Man sieht schnell, daß der klassische bundesrepublikanische Linksintellektuelle mit keiner dieser vier Positionen mehr vereinbar ist - sogar Jürgen Habermas ist willens, in alledem so etwas wie ein Happy-End des katastrophalen Zwanzigsten Jahrhunderts zu erkennen. Die klassische Rolle des engagierten linken Intellektuellen ist aber noch aus einem anderen Grund aller Wahrscheinlichkeit nach unwiderruflich ausgespielt. Ihr Ende läßt sich an den beiden letzten Preisträgern des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Günter Grass und Martin Walser, genau beobachten.
Der Verfall einer politischen Kultur läßt sich auch an den Wortblasen erkennen, die ihrem Sumpf entsteigen. Anfangs nur eine Marotte des Fraktionschefs von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, hat die Floskel inzwischen Karriere gemacht. Landauf, landab, zuallerletzt in den Auslassungen des rivalisierenden Vorsitzenden der gleichen Partei, müssen wir es hören oder lesen: "Ich kann nur davor warnen..." Gewarnt werden die Öffentlichkeit vor der Stimmung an irgendeiner Basis, Unternehmer vor Investitionen in China, Funktionäre vor Einbrüchen bei Wahlen und die Politik vor allgemeinem Realitätsverlust. Mit der wichtigtuerischen Formel geben sich die, die sie äußern, als weitsichtige Diagnostiker ihrer Zeit zu erkennen, die etwas so Unzeitgemäßes wie Moral erst gar nicht mehr bemühen müssen, sondern gleich an den aufgeklärten Egoismus ihrer Adressaten appellieren.
Die politischen Chefs warnen und keiner hört zu; die umworbene Jugend verstummt und geht ihrem Stiefel nach. Das sind schlechte Zeiten für eine intellektuelle Kultur, die ja auf anderes nicht bauen kann, denn auf eine präzise, reiche Sprache, und sprachbegabte, ja sprachmächtige einzelne, die Deutlichkeit ebensowenig scheuen wie Öffentlichkeit, die den unversöhnlichen Streit dem lauen Konsens der Demokraten vorziehen und die Wahrheit stärker lieben als die bis zum Verschleiß beschworene Verantwortung. Dafür stehen in der Liturgie des öffentlichen Gesprächs nach wie vor Preisverleihungen - die beiden letzten Friedenspreise des deutschen Buchhandels mit ihren einander entgegengesetzten Protagonisten Günther Grass und Martin Walser. Beide Angehörige einer Generation, die zwar nicht genau den Achtundsechzigern zuzurechnen ist, aber doch im Jahr 1968 eine besondere Wirkungsmächtigkeit erreicht hat, haben den Zirkel dessen, was auch in Zukunft intellektuelle Positionen in diesem Lande ausmachen können, genau umrissen. Eine hypothetische Zuspitzung dieser Konstellation könnte besagen, daß mit Günter Grass' Rede im letzten Jahr der klassische Linksintellektuelle der alten Bundesrepublik seine Abschiedsrede gegeben hat, während mit Martin Walsers Preisrede in diesem Jahr der Intellektuellentypus der künftigen Berliner Republik seine Antrittsrede gehalten hat.
An der Auseinandersetzung des vergangenen Jahres um Günter Grass hat sich offenbart, daß die "Individualisierung" das exakte Gegenteil dessen bedeutet, was einmal - zugegebenermaßen vage - als "Individuum" bezeichnet wurde. Ein Schriftsteller, eine einzelne, unteilbare Person, gewiß eitel, gewiß verletzlich, hat es gewagt, den Kopf herauszustecken und zugunsten von Asylbewerbern lediglich zu wiederholen, was vor fünf Jahren noch Hunderttausende bei Protestdemonstrationen wußten und sagten. Das alles ist vergessen, verdrängt und verstummt und bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen kläglich unter den Tisch gefallen.
Grass und Walser stellen Artikulationen eines Wandels dar, sie sind eher Symptome als Ursachen.
Wo sind sie also geblieben, die Intellektuellen - wo sind wir geblieben? Bei der täglichen Soap und der Eigentumswohnung, den Malaisen der mittleren Jahre und dem Wunsch, die Buchmesse heil zu überstehen? Das alte Lied von Korruption und Verrat, wachsender Indolenz und zunehmender Weisheit - was ungefähr auf dasselbe hinausläuft? Die Gründe dürften tiefer, in der Sozialstruktur und der politischen Kultur der deutschen Gesellschaft liegen. Die deutschen Intellektuellen sind verstummt, weil sie, weil wir - im Unterschied zu Frankreich - in aller Regel Bildungsbeamte sind und damit in das Dreieck von Bildungsreform und Beamtenstatus, Parteiendemokratie und Verbandskorporatismus verflochten sind.
Mit der Bildungsreform und der damit einhergehenden Verbreiterung und Verbreitung sozialkritischen Wissens von der Professorin bis zum Sozialarbeiter ist erstens der Typus des Intellektuellen als eines herausgehobenen einzelnen inflationiert, ohne daß das gesellschaftliche Ausdrucksvermögen Schritt halten konnte.
Da zudem zweitens doch sehr viele der ehemaligen Achtundsechziger Bildungsbeamte, sprich Professoren oder Lehrer, geworden sind, haben sich die sozialen Bedingungen für reflektiertes Engagement verknappt. Die Spannung zwischen beamtenrechtlich geschütztem Radikalismus à la GEW hier und den Reputationsanforderungen des akademischen Betriebs dort läßt nur wenig Raum für ein Denken, das ganz der Sache hingegeben, ohne Rücksichten, im Risiko des Scheiterns Position bezieht. Diese Rolle ist inzwischen von Dichtern wie Botho Strauß und Peter Handke übernommen worden, die sich von den Intellektuellen des klassischen Typs mindestens dadurch unterscheiden, daß sie sich von jedem Fortschrittsgedanken - auch einem dialektisch gewendeten - abgekehrt haben.
Diejenigen aber, die dem Zeitgeist zum Trotz einem moderaten Fortschrittsstreben anhängen, haben sich in den Fängen des bundesdeutschen Korporatismus verstrickt. Ob sie ihre Einsichten kirchlichen Kammern, der soliden Arbeit irgendwelcher NGOs oder sich mit Ach und Krach gerade noch fortschrittlich wähnenden Parteien als Experten - und mithin als seriös - zur Verfügung stellen, ändert daran nichts. Wer früher für Bürgerrechte einstand, jetzt aber seinen ganzen Ehrgeiz daransetzt, das schlüssige Modell einer "bürgerfreundlichen" Verwaltung zu entwerfen, hat die klassische Rolle jedenfalls aufgegeben.
Freilich: ein Günter Grass, der kein Beamter ist und dennoch lange Jahre den Willen zu konstruktiver Mitarbeit im korporatistischen System aufbrachte, hat gezeigt, daß es um all das gar nicht geht. Es reicht, das, was tagtäglich in der Zeitung steht, öffentlich, richtig adressiert und mit jenen moralischen Maßstäben vorzutragen, die einem und einer - sofern nicht alles klar oder kein Thema ist - im Prinzip noch verfügbar sind. Für das, was hierzulande an den "Schüblingen" und in Kurdistan verbrochen wird, lassen sich nämlich sehr wohl Worte finden. Günter Grass gab - ohne vor Standortnachteilen zu warnen - an, sich für die Bundesrepublik Deutschland zu schämen. Scham aber ist das moralische Gefühl par excellence. Scham über die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit war einer der Motoren der Revolte von 1968. Wo aber das glückliche Bewußtsein an die Stelle dieses moralischen und damit öffentlichen Gefühls tritt, schließt sich der Spielraum jeder Politik und die Welt wird eindimensional.
Eben diese Scham hat der diesjährige Preisträger, Martin Walser, in seiner Rede zum Schweigen zu bringen versucht. Seine Rede stand am Beginn der Berliner Republik, sie wurde während jener Koalitionsverhandlungen vorgetragen, die sie instrumentieren werden. Die neue, die rot-grüne Republik als Vergangenheitsabwicklungsanstalt? Und nicht nur das! In seiner programmatischen Einrede gegen einen berühmten Denker und einen berühmten Dichter - Begriffe, hinter denen unschwer die Generationsgenossen Grass und Habermas zu erkennen sind - gibt Walser nicht nur seinen nationalen Gefühlen Ausdruck, sondern inszeniert sich - für unser Thema von besonderer Bedeutung - als Inbegriff des Gegenintellektuellen. Wenn sich die klassischen Intellektuellen von Emile Zola bis zu Jean Paul Sartre durch etwas ausgezeichnet haben, dann durch die von keiner professionellen Qualifikation, von keinem besonderen Expertenwissen gestützte moralische Einrede gegen den Weltlauf, dadurch, die Miserabilität der Verhältnisse darzulegen und anzuklagen - in der Hoffnung und in der Annahme, daß diejenigen, die qua Politik für sie zuständig sind - Öffentlichkeiten und Regierungen - sich der Mißstände annehmen würden. Genau diese Haltung will Walser kassieren. Gegenintellektueller bleibt er indes dadurch, daß er diese Haltung ihrerseits in Habitus und Gestus des mutigen, tabubrechenden einzelnen vorträgt: "Ich verschließe mich Übeln", das ist der für unser Thema zentrale Satz, "an deren Behebung ich nicht mitwirken kann." Aufs Ganze genommen wäre mit dieser Haltung weder Zolas Protest gegen den Dreyfusprozeß noch Hannah Arendts nachträgliche Kritik an den Judenräten oder gar Adornos Totalkritik an einer von der Warenform durchherrschten Gesellschaft denkbar.
Martin Walsers Rede sowie die Zustimmung signalisierenden Mienen der Herren Schäuble und Rühe, Herzog und Naumann haben eine neue Seite deutscher Geschichtspolitik aufgeschlagen. Die Berliner Republik, so wünschen viele, keineswegs nur Konservative, soll sich unbelastet von jeder Vergangenheit der Zukunft zuwenden. In seiner ironisch-zerquälten Sonntagsrede forderte der Preisträger nicht weniger als das Ende der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Walsers - unter Berufung auf das individuelle Gewissen - daherkommender Polemik gegen das Berliner Mahnmal ist indes mit seinen eigenen Worten zu widersprechen: "...eine rein weltliche, eine liberale, eine vom Religiösen, eine überhaupt von allem Ich-überschreitenden fliehende Gesellschaft kann Auschwitz nur verdrängen. Wo Ich das Höchste ist, kann man Schuld nur verdrängen. Aufnehmen, behalten und tragen kann man nur miteinander." So Walser 1979 in einem Band Zur geistigen Situation der Zeit. Nun läßt sich kaum etwas Ich-überschreitenderes als ein ins Zentrum der Hauptstadt eingelassenes Mahnmal an die Opfer des Holocaust denken. Was spricht 1998 gegen ein öffentliches Eingedenken, das knapp zwanzig Jahre zuvor so dringlich schien? Wo ist umgekehrt das Ich stärker auf sich zurückgeworfen als im individuellen, stumm bleibenden Gewissen? Indem Walser die nach wie vor heftige Debatte über Voraussetzungen, Ausmaß und Folgen des deutschen Mords an den europäischen Juden nur als einen Diskurs über Schuld versteht, unterschlägt er die Scham und ihre produktive Kraft. Scham ist im Unterschied zu Schuld nicht individualisierbar. Gerade weil es bei der Scham nicht um moralische Zurechnung verbrecherischen Handelns, sondern um das Bewußtsein, einem historischen und politischen Gemeinwesen anzugehören, geht, vermag sie die Schuld - von Millionen einzelnen - zwar nicht zu tilgen, aber doch durch tätiges Handeln zu erhellen. Weil Walser das in seiner Ich-Bornierung und der ihr entsprechenden Sehnsucht nach nationalem Glück nicht versteht, vermag er Eisenmanns Mahnmal auch nur als Schandmal, als Alptraum zu sehen. Daß der Zweck dieses Mahn- und Denkmals, eines erhabenen, steinernen Totenwaldes, vor allem darin besteht, jenen Millionen ermordeten Menschen mindestens Respekt zu erweisen, sie symbolisch aus der Ausgrenzung des Todes zurückzuholen und ihnen in der Mitte der Bürgerschaft einen Ort einzuräumen, ist dem von Deutschland besessenen Dichter fremd. Das, was die Theologie "erinnernde Solidarität" nennt, ist ihm nicht einmal ein Wort, keine Bemerkung wert. Solidarisch ist dieser Preisträger allenfalls mit seinem Volksgenossen - heute ein verurteilter DDR-Spion, gestern vielleicht ein überlebender Jude mit deutschem Paß - Victor Klemperer. Daß die meisten Opfer der Nationalsozialisten weder einen deutschen Paß hatten noch überlebten, entgeht seinem verengten Blick.
Freilich ist es nicht nur die von vielen geteilte Suche nach dem erinnerungslosen Glück, also der Verlust der Vergangenheit, der eine Renaissance des linken Intellektuellen unwahrscheinlich macht, sondern auch ihr Gegenteil, der durch den Untergang des despotischen realen Sozialismus im Jahr 1989 unter den Intellektuellen des Westens ausgelöste Utopieverlust. Die vom realen Sozialismus selbst behauptete Identität zwischen sowjetischer Herrschaft und sozialistischer Idee, die von vielen linken Intellektuellen bei aller Kritik im Grundsatz akzeptiert wurde, hat nach 1989 zu einer folgenreichen Gleichsetzung von marxistischer, kritischer Idee und stalinistischem Totalitarismus geführt. Der vermeintliche, inzwischen deutlich dementierte Erfolg einer deregulierten Marktwirtschaft in Verbindung mit einer - übrigens von der radikalen wie der reformistischen Linken seit Jahrzehnten betriebenen - Kritik, nicht nur am Stalinismus und seinen Millionen von Opfern, hat zu einem Ernüchterungsschub geführt. Ohne daß Alexander Solschenizyn und François Furet wesentlich über das hinausgegangen wären, was bereits Karl Kautsky, Rosa Luxemburg oder Victor Serge am Regime der Bolschewiki zu kritisieren hatten, wurde diese Kritik noch einmal aufgenommen. Dabei kommt es mir in diesem Zusammenhang weniger darauf an, die Debatte etwa über das Schwarzbuch noch einmal aufzunehmen, sondern nur darum - es geht um unser Thema -, auf einen ebenso folgenreichen wie in der Sache nicht begründeten Mentalitätswandel hinzuweisen. So richtig es ist, daß viele Utopiker totalitär dachten und gewiss einige politische Totalitaristen auch über Utopien verfügten, sowenig sind Utopie und Totalitarismus miteinander identisch. Indem aber ein Teil der über den Untergang des realen Sozialismus resignierenden intellektuellen Linken diese Gleichsetzung übernahm, liquidierte er die Rolle des kritischen Intellektuellen gleich mit. Am Ende bleibt Martin Walser: "Unerträgliches muß ich nicht ertragen können. Auch im Wegdenken bin ich geübt."
Aber wie dem auch sei. Auch Intellektuelle leben in Generationen und sind auf ihre Weise, qua Generation - bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit - dem Zeitgeist verbunden. Womöglich sind sich Grass und Walser bei aller Gegensätzlichkeit näher, als es auf den ersten Blick scheint. Womöglich ist Martin Walser - auch er ein Angehöriger der Flakhelfergeneration - gar nicht der Vorreiter einer ernüchterten, aber um so nationalistischeren, neuen Generation der Intelligenz, sondern lediglich einer der letzten, vielleicht sogar der allerletzte - lediglich als Gegenintellektueller aufgeputzte - Intellektuelle, nicht nur der alten Bundesrepublik, sondern des alten Deutschland überhaupt. Womöglich stellte Walsers nur auf den ersten Blick beeindruckender Auftritt nichts anderes dar als eine andere Variante von Abschieden, die dieser Tage begangen werden. Etwa so, wie die gespenstisch absurde Verabschiedung von Helmut Kohl, einem heillosen Zivilisten, durch ein dem Absolutismus entstammendes autoritäres Ritual, bei dem junge Soldaten in strömendem Regen dem Befehl "Helm ab zum Gebet" folgen mußten. Und so, wie dieses sinnlos gewordene Ritual vom zögerlichen Beifall der Menge begleitet wurde, und mit ihm das ganze alte Deutschland nun tatsächlich in den wohlverdienten Ruhestand tritt.
Tatsächlich nämlich hat sich seit einigen Tagen dieses alte Deutschland, in dem sich - wie Hauke Brunkhorst es in seinem brillanten Essay "Über den Intellektuellen im Lande der Mandarine" gezeigt hat - kritische Intellektuelle und skeptisch-ironische Gegenintellektuelle immer wieder, oft genug mit fatalen Folgen, ihren Strauß geliefert haben, verabschiedet. Mit der von SPD und Grünen verabredeten Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts wird Deutschland um- und die Nation neu gegründet. Mit dieser "Rechtsrevolution" - so nicht wenige konservative Stimmen - tritt Deutschland aus dem Nebel einer romantisch-völkischen Staatsidee ins Licht einer aufgeklärten Idee der Nation - und das im Zeichen einer alles andere als konfliktfreien multikulturellen Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird ihre eigenen Geister hervorbringen, die wir heute noch nicht kennen.