Hansjörg Herr

Arbeitsmarktreformen und Beschäftigung.
Über die ökonomietheoretischen Grundlagen der Vorschläge der Hartz-Kommission

 

Die Zahl der Arbeitslosen ist in Deutschland im Sommer 2002 auf über vier Millionen angestiegen. Dies entspricht einer Arbeitslosenquote von fast 10%, etwa 8% im Westen und 18% im Osten (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 2002). Dazu kommt die verdeckte Arbeitslosigkeit von Ende 2001, rund 1,7 Millionen Personen (1) .Anlass genug für die Bundesregierung, sich verstärkt um das Problem der Arbeitslosigkeit zu kümmern. Sie richtete kurz vor der Bundestagswahl 2002 eine Kommission "Moderne Dienstleistungen im Arbeitsmarkt" ein nach dem Vorsitzenden "Hartz-Kommission" genannt. Im August 2002 stellte diese Kommission ihren Bericht vor, der vielfältige Vorschläge macht und die Arbeitslosigkeit bis 2005 halbieren soll. Die Bundesregierung hat angekündigt diese Vorschläge zügig umzusetzen.

Auffallend ist, dass die bisherige Diskussion der Hartz-Vorschläge sich in Einzelheiten verläuft. Die ökonomietheoretischen Unterstellungen des Hartz-Ansatzes bleiben dagegen weitgehend im Dunkeln. Im vorliegenden Beitrag soll der implizite theoretische Unterbau des Berichtes beleuchtet und kritisiert werden.


1. Arbeitsmärkte als regulierte Märkte

Arbeitsmärkte sind in allen entwickelten kapitalistischen Ökonomien durch vielfältige Regulierungen gekennzeichnet, die in ihren Ausmaß die Regulierungen in anderen Märkten weit übertreffen. Darin kommt zum Ausdruck, dass Arbeit keine gewöhnliche Ware ist und der Arbeitsmarkt offensichtlich auch nicht wie ein gewöhnlicher Markt funktioniert. Dies zeigt sich schon daran, dass der Arbeitsmarkt während der letzten Jahrzehnte in fast allen Industrieländern durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Betrachtet man die historische Entwicklung ab dem 19. Jahrhundert, dann müssen Phasen von Vollbeschäftigung eher als Ausnahme und gerade nicht als Regel angesehen werden. Allerdings zeigen die Phasen niedriger Arbeitslosenzahlen, etwa die 1960er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, dass ein hoher Beschäftigungsstand unter bestimmten Bedingungen möglich ist.

Üblicherweise wird die intensive Regulierung des Arbeitsmarktes damit begründet, dass auf dem Arbeitsmarkt Leistungen von Menschen gehandelt werden und dadurch eine soziale Komponente unumgänglich sei. Das ist richtig, jedoch erweisen sich viele Regulierungen des Arbeitsmarktes auch jenseits sozialer Aspekte aufgrund der Funktionsbedingungen marktvermittelter Ökonomien als sinnvoll und wichtig. So bewirkt die Existenz von Gewerkschaften oder von Institutionalisierungen, die ein Schwanken der Löhne wie etwa das Schwanken der Ölpreise verhindern, eine makroökonomische Stabilisierung. Unten wird näher auf dieses Argument eingegangen.
Die äußerst heterogenen Regulierungen des Arbeitsmarktes können für unsere Zwecke in folgende Gruppen eingeteilt werden:

- Erstens: Institutionalisierungen zur Bestimmung des Lohnniveaus.
Unter diesen Punkt fallen insbesondere Tarifverhandlungen, die das Lohnniveau bzw. die Lohnkosten der Unternehmen bestimmen, sowie gesetzliche Bestimmungen wie Mindestlöhne, die ebenfalls das Lohnniveau beeinflussen können. Von Relevanz ist hier das Niveau der Bruttolöhne einschließlich der Arbeitgeberzahlungen an die Sozialkassen. Denn es ist für die Kostenbelastung eines Unternehmens gleichgültig, wie sich die Lohnkosten aufteilen, ob der Anteil der Nettolöhne auf Kosten der Sozialabgaben steigt oder umgekehrt.

- Zweitens: Institutionalisierungen zur Bestimmung des Lohnstruktur.
Auch die Lohnstruktur wird durch Tarifverhandlungen und gesetzliche Regelungen wie beispielsweise gesetzliche Mindestlöhne determiniert. Steuerliche Anreize oder ähnliche Mechanismen können die Löhne für bestimmte Arbeitnehmergruppen senken und damit auf die Lohnstruktur einwirken. Veränderungen der Lohnstruktur wirken in aller Regel auch auf das Lohnniveau.

- Drittens: Institutionalisierungen zur sozialen Absicherung und zum Schutz von Arbeitnehmern.
Unter diesen Punkt fallen eine Unzahl von gesetzlichen Bestimmungen wie Kündigungsschutz, Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen, Jugendschutz, Regulierungen der Unfallverhütung etc. Diese Institutionalisierungen sind teilweise gesetzlich bestimmt, teilweise ergeben sie sich aus Tarifvertragsregelungen oder aus unternehmensbezogenen oder individuellen Arbeitsverträgen. Ökonomisch lassen sich diese Punkte alle auf Kosten reduzieren, die ein Unternehmen zu tragen hat. So führt beispielsweise ein umfangreicherer Kündigungsschutz, eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder längerer Urlaub zu höheren Lohnkosten, während die Streichung eines gesetzlichen Feiertages die Lohnkosten senkt. Der gesamte Komplex dieser Regulierungen wirkt sowohl auf das Lohnniveau als auch auf die Lohnstruktur ein. Auf theoretischer Ebene genügt es somit, die ökonomischen Effekte solcher Regelungen in der Form einer Veränderung des Lohnniveaus und der Lohnstruktur zu diskutieren, denn alle Veränderungen in diesem Bereich wirken letztlich auf diese beiden Größen.

- Viertens: Beschleunigung der Arbeitsvermittlung.
Gelingt es, bei Existenz offener Stellen die Vermittlung von Arbeitslosen zu beschleunigen, dann sinkt die Arbeitslosenquote. Eine Beschleunigung kann wiederum durch vielfältige Maßnahmen erreicht werden: Beispielsweise durch ein effizienteres Informationssystem und eine effizientere Vermittlungsbehörde, durch Qualifikationsmaßnahmen bei einem unterschiedlichen Profil der offenen Stellen und der Arbeitslosen, durch Mobilitätsförderung bei einem regionalen Ungleichgewicht von offenen Stellen und Arbeitslosen oder durch Erhöhung des Zwangs gegenüber Arbeitslosen, auch Stellen anzunehmen, die eine berufliche und einkommensmäßige Verschlechterung implizieren.

Vor dem Hintergrund dieser Einteilung ist nun vor allem (2) zu diskutieren der Zusammenhang von:

- Beschleunigung der Arbeitsvermittlung und Beschäftigung
- Lohnstruktur und Beschäftigung
- Lohnniveau und Beschäftigung

Im nächsten Abschnitt werden die einzelnen Vorschläge der Hartz-Kommission vorgestellt und jeweils einem dieser drei Punkte zugeordnet.

2. Die sozialen und finanzielle Konsequenzen der Hartz-Vorschläge
2.1 Die Vorschläge

Die Hartz-Kommission hat dreizehn Module erarbeitet (vgl. Hartz-Bericht 2002), die kurz nach Bereichen gruppiert vorgestellt werden sollen.

Beschleunigung der Arbeitsvermittlung
a) Quick-Vermittlung: Personen müssen dem Arbeitsamt schon zum Zeitpunkt der Kündigung ihre zukünftige Arbeitslosigkeit melden - anderenfalls drohen ihnen abhängig von der Verspätung Abschläge vom Arbeitslosengeld.

b) Modifizierung der Zumutbarkeitsregeln: Abhängig von der individuellen Situation wird die Zumutbarkeit bezüglich Mobilität, Qualität der Arbeit etc. für die Annahme einer neuen Beschäftigung verschärft. Wird eine angebotene Stelle nicht angenommen drohen Kürzungen des Arbeitslosengeldes. Eine Nichtzumutbarkeit ist gegebenenfalls vom Arbeitnehmer zu beweisen.

c) Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in JobCenters: Das Job-Center wird die Anlaufstelle für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes I kommt das Arbeitslosengeld II zum Zuge, das die bisherige Arbeitslosenhilfe ersetzt. Das Höhe des Arbeitslosengeldes II ist - wie die Sozialhilfe - vollständig bedarfsabhängig.

d) Personal-Service-Agenturen (PSA): Dabei handelt es sich um Zeitarbeitsfirmen, die Arbeitslose einstellen und an Unternehmen, Haushalte etc. "vermieten". Insbesondere Langzeitarbeitlose bzw. schwer vermittelbare Personen sollen über PSAs in das Berufsleben zurückgeführt werden, da sich die Unternehmen die betreffenden Personen erst einmal ohne weitere Verpflichtung "ansehen" können. Diese Agenturen können vom Arbeitsamt gegründet werden. Jedoch können auch bestehende oder neue private oder halbstaatliche Zeitarbeitsfirmen die Funktion der PSAs übernehmen. Die Verschärfung der Zumutbarkeit zwingt Arbeitslose dazu, in PSAs eine Stelle anzunehmen. Die Entlohnung in den PSAs wird tarifvertraglich geregelt.

e) Reform der inneren Verwaltungsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit: Das Ziel liegt in der Steigerung der Effizienz der gesamten Institution beispielsweise durch transparenteres Controlling und effizientere IT-Steuerung.

f) Umbau der Bundesanstalt für Arbeit: Die Arbeitsämter werden zu JobCenters, welche die Vermittlung der Arbeitslosen effizienter und schneller als bisher gestalten sollen. Die Landesarbeitsämter werden zu Kompetenz-Zentren, die eine Vernetzung verschiedener arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten herstellen sollen und den Job-Centers beratend zur Seite stehen.

Finanzielle Anreize mit Wirkung auf die Lohnstruktur und das Lohnniveau
g) Spezielle Förderung von jugendlicher Arbeitslosen: Zur Finanzierung zusätzlicher Ausbildungsstellen wird ein Ausbildungszeit-Wertpapier von lokal oder regional or-ganisierten Stiftungen emittiert. Man hofft, dass die Stiftungen ein Teil der Kosten über Spenden decken können.

h) Mini-Jobs: Die Verdienstgrenze für Mini-Jobs in privaten Haushalten wird auf 500 Euro im Monat angehoben. Diese unterliegen einer Sozialversicherungspauschale von 10% (3).

i) Subventionierung der Unternehmen bei Einstellung eines Arbeitslosen: Werden Arbeitslose eingestellt, dann erhalten kleinere und mittlere Unternehmen nach Ablauf der Probezeit einen vergünstigten Förderkredit pro eingestellten Arbeitslosen von maximal 100.000 Euro. Zur Finanzierung wird eine steuerlich geförderte Anleihe (Job-Floater) von der Kreditanstalt für Wiederaufbau emittiert. Jeder Arbeitslose bringt somit in sein neues Unternehmen einen Förderkredit in Höhe von potentiell 100.000 Euro mit. Die Bonitätsprüfung übernimmt die Hausbank des betreffenden Unternehmens.

j) Bonussystem für Unternehmen: Unternehmen, die eine positive Beschäftigungsentwicklung aufweisen und Arbeitsplätze aktiv sichern, erhalten einen Bonus bei der Arbeitslosenversicherung und müssen geringere Arbeitslosenbeiträge bezahlen. Es dürfte nicht einfach sein, für ein solches Bonussystem einen geeignete Indikator zu entwickeln, da die konjunkturelle Entwicklung von einzelnen Unternehmen nicht gesteuert werden kann und auch branchenabhängig ist.
Unsystematisches ohne relevante Wirkung auf die Beschäftigung

k) Ausgliederung ältere Arbeitnehmer: Im Rahmen des "Bridge-Systems" können ältere Arbeitnehmer auf eigenen Wunsch ab 55 Jahren aus der Arbeitsvermittlung ausgegliedert werden. Sie erhalten statt Arbeitslosengeld eine kostenneutrale monatliche Leistung. Sie werden aus der Arbeitslosenstatistik ausgegliedert und gesondert ausgewiesen. Nehmen ältere Arbeitslose eine niedriger bezahlte Beschäftigung an, dann übernimmt das Arbeitsamt Teile des Einkommensverlustes für einige Jahre. Obwohl die Gruppe der ausgegliederten Arbeitslosen transparent in der Statistik ausgewiesen werden soll, liegt der Verdacht nahe, dass es beim Bridge-System im wesentlichen darum geht die Statistik zu schönen. Immerhin könnten potentiell über 20% der Arbeitslosen durch diesen "Trick" aus der Arbeitslosenstatistik herausgenommen werden.

l) Bündnis für mehr Beschäftigung aller gesellschaftlichen Gruppen (Politiker, Geistliche, Wissenschaftler, Selbsthilfegruppen, Künstler etc.).
Förderung von Selbständigkeit.

m) Ich-AGs (bei Familienbetrieben Familien-AGs): Bei den Ich-AGs erhalten Arbeitslose, die sich selbständig machen, für bis zu drei Jahren Subventionen maximal in Höhe der beim Arbeitsamt bei Arbeitslosigkeit ansonsten anfallenden Kosten. Während bei den Punkten k) und l) keine Beschäftigungswirkungen zu sehen sind, kann die Förderung des Weges in die Selbständigkeit positive Wirkungen zeigen. Wie bei den Mini-Jobs soll auch die Ich-AG die Schwarzarbeit reduzieren.

Die Hartz-Kommission erwartet bei zügiger Umsetzung der Vorschläge bis Ende 2005 einen Abbau der Arbeitslosigkeit in Höhe um annähernd zwei Millionen Personen, also in etwa eine Halbierung der Arbeitslosenquote. 780.000 Personen im Rahmen des Aufbaus der Personal-Service-Agenturen, 500.000 Personen durch Ich-AGs, 450.000 durch Beschleunigung der Vermittlung und 250.000 durch gezielte Betreuung in den JobCenters.


2.2 Die sozialen Konsequenzen für die Arbeitslosen

In den Vorschlägen finden sich eine Reihe von Punkten, welche die finanzielle Lage der Arbeitslosen verschlechtern. Neben den Punkten a) und b), die in ihrem Finanz-volumen nicht sehr groß sein dürften, ist hier insbesondere der Punkt c) relevant, die Umstellung der bisherigen Arbeitslosenhilfe auf ein Arbeitslosengeld II. Bisher galt, dass die Arbeitslosenhilfe grundsätzlich 53% des letzten Nettoarbeitsentgeltes entspricht. Modifiziert wurde diese Zahlung durch die Anzahl der Kinder sowie die Einkommens- und Vermögenssituation des Arbeitslosen (4). Das vorgeschlagene Arbeitslosengeld II geht nun vollständig vom Versicherungsprinzip ab und folgt der Logik der Sozialhilfe:

"Das Arbeitslosengeld II ist eine steuerfinanzierte bedürftigkeitsabhängige Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts der arbeitslosen erwerbsfähigen Personen im Anschluss an den Bezug von oder der Nichterfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld I." (Hartz-Bericht 2002: 27)

Es ist zu erwarten, dass das Niveau der bisherigen Arbeitslosenhilfe deutlich abgesenkt wird.
Dieser Punkt bedeutet vor allem eine Verschlechterung für Langzeitarbeitslose, die damit einem stärkern Zwang unterworfen werden, falls vorhanden, für sie schlechtere Arbeitsstellen anzunehmen. Die Dauer der Bezahlung des Arbeitslosengeldes I, dessen Höhe sich aus dem Versicherungsprinzip ergibt und sich nach dem vergangenen Verdienst der arbeitslos gewordenen Person richtet, wird entsprechend der Zeiten des Versicherungsverhältnisses sowie des Lebensalters des Arbeitslosen bestimmt. Die maximale Zahlungsdauer beträgt 32 Monate, die jedoch nur von wenigen Personen erreicht wird. Für Personen unter 45 Jahren beträgt die maximale Zahlungsdauer 12 Monate. Bei von annähernd 1,5 Millionen Langzeitarbeitslosen (5) ergibt sich durch die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf ein vollständig vom Bedarf abhängiges Arbeitslosengeld II ein beträchtliches Einsparungspotential, jedoch auch eine beträchtliche Schlechterstellung der Langzeitarbeitslosen.
Es ist eine politische Entscheidung, welche finanziellen Mittel eine Gesellschaft für ihre Arbeitslosen aufwendet. Zwei Philosophien treffen hier aufeinander. Wenn Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen der Arbeitslosen angesehen wird, die zu hohe Löhne fordern oder einfach faul sind, liegt es nahe, an diese Personen eine bedarfsabhängige und niedrige Zahlung zu leisten, die gerade zum Überleben reicht. Wird Arbeitslosigkeit dagegen als ein makroökonomisches Problem erachtet, dann ergibt sich ein anderes Bild. Dann ist es für eine Gesellschaft "schäbig", wenn sie ihre Arbeitslosen nicht angemessen finanziert. Dass Langzeitarbeitslose nach einer gewissen Zeit der Arbeitslosigkeit ihre Qualifikationen (einschließlich der sozialen Fähigkeiten zu Arbeit) verlieren, wird in der ökonomischen Literatur seit langem unter dem Stichwort Hysteresis bzw. Siebeffekten diskutiert (vgl. Blanchard 1987). Nach einer Phase langer und hoher Arbeitslosigkeit bildet sich mehr oder weniger automatisch ein sogenanntes "Lumpenproletariat" heraus, dass dann immer schwieriger zu vermitteln ist. Ob die Absenkung der Transferzahlungen an diesen Teil der Gesellschaft, der sowieso zu den Verlierern gehört, die soziale Kohärenz einer Gesellschaft erhöht, darf bezweifelt werden. Möglicherweise sind die Kosten, die sich aus potentiell höherer Kriminalität, geringeren Entwicklungschancen von Kindern aus diesem Segment der Gesellschaft etc. ergeben, höher als die Einsparungen - ganz abgesehen von immateriellen Schäden einer Gesellschaft.
Langzeitarbeitslose können über verschiedene Prinzipien finanziert werden.
Es kann eine großzügige Zahlung entsprechend des letzten Verdienstes der arbeitslosen Person bezahlt werden oder es kann ein großzügiger Pauschalbetrag an die Langzeitarbeitslosen bezahlt werden. Mir erscheint eine großzügige Pauschalzahlung oder Pauschalzahlung mit ganz wenigen Kriterien - etwa die Kinderanzahl - sozial und administrativ angebrachter zu sein.


2.3 Die finanziellen Konsequenzen für die öffentlichen Haushalte

Die meisten der Vorschläge der Hartz-Kommission führen nicht zu einer längerfristigen finanziellen Belastung der öffentlichen Haushalte oder der Arbeitslosenversicherung. Jedoch gibt es bezüglich der Finanzierbarkeit drei Unwägbarkeiten. Es ist unklar, auf welche Resonanz das Ausbildungszeit-Wertpapier stößt und ob nicht letztlich staatliche Haushalte die finanziellen Mittel für die Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit aufbringen müssen. Da die Anzahl der Berechtigten quantitativ begrenzt ist, dürften die finanziellen Belastungen nicht ausufern. Das gleiche gilt auch für den Bonus, den Unternehmen bei beschäftigungsfreundlicher Politik von der Bundesanstalt für Arbeit erhalten.
Schwieriger abzuschätzen ist die Subventionierung von kleinen und mittleren Unternehmen bei der Einstellung eines Arbeitslosen. Da diese Unternehmen die meisten Arbeitsplätze anbieten und die Subventionen für alle Arbeitslose gilt, liegen hier finanzielle Risiken, die jedoch begrenzt sind. Im Hartz-Bericht wird eine Modellrechnung präsentiert: Mit einem Job-Floater - also einem subventionierten Kredit an ein Unternehmen, das einen Arbeitslosen einstellt - in Höhe von 100.000 Euro und einer Vergabe für 100.000 Arbeitnehmer ergäbe sich ein Finanzierungsbedarf in Höhe von 10 Mrd. Euro. Es wird davon ausgegangen, dass jährlich etwa diese Summe anfallen könnte (vgl. Hartz-Bericht 2002: 33). Um die Zahl der Arbeitslosen über diesen Weg um eine Million zu reduzieren, müsste immerhin die stattliche Summe von 100 Mrd. Euro aufgebracht werden. Belastet würden die öffentlichen Haushalte aber nur in Höhe der Zinssubvention. Beträgt die Subvention beispielsweise 3%, dann würde die Belastung bei 3 Mrd. Euro liegen.

Das Hauptproblem des Job-Floaters liegt in Mitnahmeeffekten. Der Anreiz dürfte groß sein, bei jeder Einstellung auf den Förderkredit zurückzugreifen oder erst Arbeitskräfte zu entlassen, um dann andere wieder einzustellen. Es gibt weitere problematische Aspekte: Was passiert, wenn ein Unternehmen den Kredit nicht zurückzahlen kann? Bekommen auch kleinere Unternehmen mit geringen Sicherheiten solche Kredite? Faktisch steckt hinter dem Job-Floater eine Zinssubventionierung von Investitionen für solvente Klein- und Mittelbetriebe. Dagegen spricht zunächst nichts. Fraglich ist jedoch, ob eine solche Zinssubventionierung pauschal an die Einstellung eines Arbeitslosen gebunden werden sollte.

2.4 Die Beschäftigungseffekte

Es fällt auf, dass das Schwergewicht der Vorschläge auf der Beschleunigung der Arbeitsvermittlung besteht. Dies soll einerseits durch eine Reorganisation und Effizienzsteigerung der Bundesanstalt für Arbeit geschehen (beim Hartz-Bericht die Punkte a, d, e und f), andererseits durch eine Erhöhung des Zwangs auf Arbeitslose, auch wenig attraktive Arbeitsplätze anzunehmen (Punkte b und c). Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit soll von 33 auf 22 Wochen reduziert werden.

Um durch eine schnellere Vermittlung die Arbeitslosigkeit senken zu können, müssen offene Stellen lange nicht besetzt sein. Zwar betrug die Suchzeit der Unternehmen nach neuen Arbeitskräften im Jahre 2001 in Westdeutschland durchschnittlich 76 Tage und in Ostdeutschland 64 Tage. Da Unternehmen zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf Bewerbersuche gehen, ist die tatsächliche Nichtbesetzung (Vakanzzeit) eines Arbeitsplatzes jedoch deutlich niedriger. Sie beträgt im Westen 27 Tage und im Osten 14 Tage (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 2002). Sicherlich kann die Vakanzzeit verkürzt werden. Es kann jedoch ausgeschlossen werden, dass sich über diesen Effekt eine deutliche Erhöhung der Beschäftigung ergibt.

Um Stellen vermitteln zu können, müssen Stellen vorhanden sein. Nach einer Repräsentativ-Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag der gesamtwirtschaftliche Bestand offener Stellen bei 1,16 Millionen. Etwa 37% der freien Stellen wurden im Westen den Arbeitsämtern gemeldet, im Osten 44% (vgl. Bundesanstalt für Arbeit 2002). Bei offiziell ca. vier Millionen Arbeitslosen gibt es schlicht und einfach nicht genügend Arbeitsplätze, die besetzt werden könnten! Dies ist das Kernproblem, das auch die beste und effizienteste Vermittlung nicht lösen kann.

Vor diesem Hintergrund müssen auch die geschätzten Beschäftigungsmöglichkeiten bei den Personal-Service-Agenturen in Höhe von 780.000 Personen angezweifelt werden. Gibt es keine zusätzliche Nachfrage nach Arbeit, dann können Zeitarbeitsfirmen auch keine zusätzliche Arbeit schaffen. Im Zweifel verdrängen sie private Arbeitsplätze. Im Interesse schwer vermittelbarer Personen mögen staatlich geschaffene und tariflich abgesicherte Zeitarbeitsfirmen dennoch sinnvoll sein, das Arbeitslosenproblem können sie jedoch nicht lösen.

Existenzgründungen auf kleinster Ebene werden bei der Ich-AG und Investitionen in Klein- und Mittelbetrieben durch den Job-Floater finanziell unterstützt. Die Nachfrage nach persönlichen Dienstleistungen im Haushaltssektor wird durch steuerliche Anreize zu erhöhen versucht. Aber auch in diesen Bereichen sind die zu erwartenden Beschäftigungseffekte gering. Denn persönliche Dienstleistungen in Haushalten sind schon jetzt in Form von Schwarzarbeit verbreitet. Durch steuerliche Anreize kann der Anteil der Schwarzarbeit reduziert werden. Neue Beschäftigung entsteht dadurch jedoch nicht. Dazu kommt, dass sich die Nachfrage nach privaten Dienstleistungen und Produkten der Ich-AGs zu einem großen Teil im Schlepptau der generellen ökonomischen Entwicklung befindet. Denn persönliche Dienstleistungen etc. werden dann besonders nachgefragt, wenn die Einkommen der Mittelschichten kräftig steigen. In konjunkturell schwierigen Zeiten ist die Zinselastizität der Investitionen gering. Aus diesem Grunde wird auch der Job-Floater in seiner Wirkung begrenzt bleiben.

Insgesamt lässt das Hartz-Konzept geringe Beschäftigungseffekte erwarten. Die Annahme einer Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2005 aufgrund der geplanten Reformen erscheint maßlos überzogen.


3. Die theoretisch erwartbaren Effekte der Hartz-Vorschläge

Dass eine Beschleunigung der Vermittlung der Arbeitslosen - wenn es unbesetzte Stellen gibt - die Arbeitslosigkeit einmalig senken kann, ist trivial und braucht nicht diskutiert zu werden. Hinter dem Hartz-Ansatz steckten jedoch spezifische ökonomietheoretische Vorstellungen, die auf dem neoklassischen Paradigma basieren und vom ökonomischen Mainstream vertreten werden. Kernpunkte dieser Vorstellungen sind, dass Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt in der Form einer flexibleren Lohnstruktur und eines nach unten beweglichen Lohnniveaus die Beschäftigung erhöhen. Es wird unterstellt, dass flexible Löhne unmittelbar Vollbeschäftigung erzeugen könnten. Die Philosophie der Hartz-Vorschläge entspricht diesen simplen Vorstellungen des neoklassischen Paradigmas.

Daher muss zunächst etwas grundsätzlicher auf die neoklassische Argumentation bezüglich Lohnstruktur und Lohnniveau eingegangen werden.


3.1 Lohnstruktur und Beschäftigung

Der Hartz-Bericht beinhaltet eine Reihe von Maßnahmen, die auf die Lohnstruktur Einfluss haben. Ei-nerseits werden die Zahlungen an Langzeitarbeitslose gekürzt und die Zumutbarkeitsregeln verschärft (Punkte b und c), was zu einer weiteren Spreizung der Löhne in Richtung schlecht bezahlter Arbeit führt. Denn diese Zahlungen fungieren als eine Art Mindestlohn, da die Entlohnung für Arbeit nicht unter den Transferleistungen des Staates liegen kann. Andererseits werden finanzielle Anreize für bestimmte Personengruppen angeboten (Punkte g, i und j). Dienstleistungen in Privathaushalten werden attraktiver gemacht (Punkt h).

In der Lohnstruktur gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen - regionale Differenzierung, Differenzierung zwischen Berufsgruppen, Differenzierung zwischen Branchen etc. Die Hartz-Vorschläge bewirken insbesondere eine größere Spreizung zwischen verschiedenen Berufsgruppen. Arbeiten, die eine geringe Qualifikation benötigen, werden dann im Vergleich zu anderen Arbeiten niedriger bezahlt. Dieser Punkt wird in diesem Abschnitt diskutiert.

Um die Wirkungen einer verstärkten Lohnspreizung zu diskutieren, gehen wir modelltheoretisch von einer Ökonomie aus, in der die Profitrate in allen Branchen gleich ist und Löhne nach unterschiedlichen Berufsgruppen differenziert sind: Personen innerhalb einer Berufsgruppe sollen aber die gleiche Entlohnung erhalten. Es gibt also Hilfsarbeiter, die relativ wenig verdienen, Facharbeiter, die mehr verdienen, und Führungskräfte, die relativ viel verdienen. Die Unternehmen in unserer Modellökonomie sind durch Vorleistungen verflochten. Jedes Unternehmen produziert Waren, die zumindest teilweise wieder in den Produktionsprozess anderer Unternehmen eingehen. Das typische Unternehmen ist ein Automobilproduzent oder ein Energieunternehmen, das seine Produkte an andere Unternehmen und an private Haushalte liefert. Auch ein Stahlproduzent, der ausschließlich an andere Unternehmen liefert, passt ins Bild. Wir haben somit eine Ökonomie, in der Waren vermittels anderer Waren produziert werden - sprich eine typische kapitalistische Ökonomie. Unternehmen in einer derartigen Ökonomie wählen aus dem existierenden Bestand an Technologien die Technologie aus, die ihren Gewinn maximiert. In die Entscheidung gehen die Kosten der verschiedenen Vorleistungen ein sowie die Kosten für Löhne und Zinszahlungen (6).
Was passiert nun, wenn sich in einem solchen Modell die Lohnstruktur in Richtung einer Absenkung der Löhne für Hilfsarbeiter verändert? Zunächst werden unterschiedliche Branchen je nach ihrer Beschäftigungsstruktur unterschiedlich betroffen. Branchen, die viele Hilfsarbeiter beschäftigen, erhöhen bei unveränderten Preisen ihre Gewinne, Branchen, die keine Hilfsarbeiter beschäftigen, profitieren von der stärkeren Lohnspreizung überhaupt nicht. Da wir zudem annehmen, dass der Konkurrenzmechanismus in der Ökonomie funktioniert, werden die Preise in den Branchen, die von der stärkeren Lohnspreizung relativ stark profitieren, relativ sinken. Als Resultat ergibt sich, dass die gesamte Preisstruktur - die Struktur der relativen Preise - in Bewegung gerät. Es bleibt jedoch nicht bei dem primären Effekt. Da die produzierten Waren der einen Branche als Vorleistungen der anderen Branche dienen, kommt es zu einem sekundären Effekt. Denn nun haben sich die Preise der Vorleis-tungen für die Unternehmen geändert, die darauf mit der Anpassung ihrer Verkaufspreise reagieren. Es folgt ein tertiärer Effekt etc. Verändern sich die relativen Preise, dann werden die Unternehmen entsprechend ihres Profitmaximierungskalküls eine neue Technologie wählen, die bei gleichem Produktionsvolumen mit einem veränderten Beschäftigungsvolumen verbunden ist. Bis sich ein neues System relativer Preise ergibt, bei dem die Profitrate in allen Branchen wieder den gleichen Wert angenommen hat, hat sich das System relativer Preise und die Technologie in der Ökonomie grundlegend verändert. Das Problem ist nur: Wie wissen nicht wie. Wir wissen nicht, ob bei gleichem Produktionsvolumen die Beschäftigung trotz steigender Lohnspreizung gestiegen ist oder nicht, eine allgemeingültige Aussage ist nicht möglich. In einer über Waren verflochtenen Ökonomie kann zwischen Lohnstruktur und Beschäftigung keine eindeutige Beziehung gezogen werden (7).

Modifizieren wir nun unser bisheriges Modell und bauen "Einbahnindustrien" ein. Dies sind Industrien, deren Produkte ausschließlich an den Endverbraucher verkauft werden, die also nicht in einen anderen Produktionsprozess eingehen. Typische Beispiele für diese Industrien sind Dienstleistungen in Privathaushalten, große Teile der Tourismusindustrie, Sonnenstudios, Lieferdienste, Privatkliniken etc. Wenn in diesen Branchen die Lohnkosten sinken, dann werden die Produkte dieser Branchen billiger. In diesem Fall ist bei einer normalen Reaktion der Nachfrage mit einer höheren mengenmäßigen Nachfrage nach diesen Produkten zu rechnen. Dadurch steigt die Beschäftigung in den betreffenden Industrien an.
Der gesamtgesellschaftliche Beschäftigungseffekt einer stärkeren Lohnspreizung in der Form der Schaffung gering bezahlter Arbeitsplätze hängt daher von einer Reihe von Faktoren ab. Zunächst werden nur die Einbahnindustrien betroffen, die niedrig bezahlte Arbeit einsetzten. Die Kosten und Preise von privaten Sprachschulen mit hochqualifiziertem Personal werden somit wenig oder nicht im Preis sinken, während einfache Reinigungsdienstleistungen in Haushalten deutlich billiger werden.
Je arbeitsintensiver die Einbahnindustrie ist, desto stärker ist der Effekt einer Lohnsenkung. Die Kosten des Betreibens von kapitalintensiven Salons mit Spielautomaten werden also von Lohnkosten weniger stark tangiert als die Kosten der kommerziellen Kinderbetreuung.
Je elastischer die Nachfrage nach Gütern von Einbahnindustrien ist, desto stärker ist der Beschäftigungseffekt. Elastizitäten hängen vom Verhalten der Wirtschaftssubjekte ab. Verhalten ist wiederum historisch spezifisch bestimmt und kann in verschiedenen Ländern unterschiedlich sein. Es ist somit nicht nur eine Frage des Preises, ob die Nachfrage nach Dienstmädchen in Haushalten bei sinkenden Löhnen von Dienstmädchen deutlich steigt.
Schließlich reduziert die Verlagerung der Nachfrage der Haushalte hin zu den billiger werdenden Produkten der Einbahnindustrien die Nachfrage nach den Produkten anderen Industrien. Ist die Arbeitsproduktivität in beiden Bereichen identisch, ergeben sich netto keine Beschäftigungseffekte. Beschäftigungseffekte tauchen somit netto nur auf, wenn die Arbeitsproduktivität in der Einbahnindustrie relativ gering ist.
Es ergibt sich als Resultat, dass Beschäftigungseffekte einer stärkeren Lohnspreizung nur bei Einbahnindustrien, die durch geringe Kapitalintensität und geringe Arbeitsproduktivität gekennzeichnet sind auftauchen. Für Beschäftigungseffekte bei stärkerer Lohnspreizung in Frage kommen also insbesondere niedrig bezahlte Arbeitsplätze mit niedrigen Qualifikationsanforderungen in Privathaushalten und arbeitsintensiven Konsumgüterindustrien (Vgl. dazu auch Flassbeck/Spieker 2001). Es ist somit kein Zufall, dass im Hartz-Bericht im Rahmen der Mini-Jobs persönliche Dienstleistungen in privaten Haushalte für die Arbeitgeber attraktiver gemacht wurden. Die gleiche Stoßrichtung hat auch die Förderung von Ich-AGs bzw. Familien-AGs. Ein weiterer Effekt ist zu berücksichtigen. Sinken die Löhne der unteren Lohngruppen und kommt es zu einer höheren Nachfrage nach Arbeitskräften in diesem Segment, dann sinkt die Arbeitslosigkeit nur, wenn sich nicht auch das Angebot an Arbeit erhöht. Dies ist jedoch keinesfalls garantiert, denn der "Armutseffekt" der sinkenden Löhne kann dazu führen, dass das Arbeitsangebot kräftig ansteigt und die Arbeitslosigkeit dann nicht sinkt (vgl. dazu die Diskussion im nächsten Abschnitt).

 

3.2 Lohnniveau und Beschäftigung in der neoklassischen Welt

Die Vorschläge der Hartz-Kommission gehen vielen nicht weit genug. Unterstützt von der neoklassischen Sichtweise der Welt wird eine generelle Absenkung des Lohnniveaus gefordert. Niedrigere Löhne, so das Argument, würden die Nachfrage nach Arbeit erhöhen. Nun wird im Hartz-Bericht keine generelle Senkung des Lohnniveaus gefordert. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Ausfransung der Lohnstruktur nach unten das Lohnniveau insgesamt absenkt. Zudem soll nach dem Hartz-Bericht Arbeit in verschiedenen Formen subventioniert werden. Es wird davon ausgegangen, dass solche Subventionen nicht nur die Arbeitslosigkeit neu verteilen, sondern auch senken. Es schwingt zumindest mit, dass die Senkung des Lohnniveaus Arbeit schaffen könnte (8). Beschäftigungseffekte durch relative Verbilligung des Faktors Arbeit im Vergleich zu Kapital werden von der Bundesregierung auch bei anderen Programmen erhofft. Zumindest ist das Projekt der Ökosteuer - so sinnvoll es aus ökologischen Gründen auch sein mag - mit der Kopplung der Senkung der Lohnnebenkosten von diesem Geist beseelt (vgl. Heine/Herr 1999).

In diesem Abschnitt sollen die Effekte von Lohnsenkungen beleuchtet werden (vgl. Herr 2002). Dabei folgen wir zunächst dem neoklassische Ansatz und diskutieren, zu welchen Ergebnissen dieser kommt, so man ihn ernst nimmt. Zu diesem Zweck sei zunächst ein typisch "neoklassischer" Arbeitsmarkt angenommen, bei dem Angebot und Nachfrage nach Arbeit nur vom Reallohnsatz abhängt. Mit steigendem Reallohn pro Stunde bieten nutzenmaximierende Haushalte mehr Arbeit an, so dass mit steigendem Reallohnsatz das Angebot an Arbeit (AA) steigt. Die Arbeiter steigen in diesem Fall aufgrund des Anreizes höherer Löhne von Freizeit auf Arbeit um. Die aggregierte Nachfrage nach Arbeit (AN) hängt ebenfalls vom Reallohnsatz ab, wobei mit sinkenden Reallöhnen die Unternehmen mehr Arbeit einsetzen (vgl. Abbildung 1) (9). Wenn in Abbildung 1 der Reallohnsatz wr1 beträgt, dann fragen die Unternehmen die Arbeitsmenge A1 nach, was bei weitem nicht dem Arbeitsangebot bei diesem Reallohnsatz entspricht. Es existiert Arbeitslosigkeit in Höhe von A3 minus A1. Der Reallohnsatz wr1 liegt über seinem Gleichgewichtsniveau, was insbesondere durch vermachtete Märkte (Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Ar-beitgeberverbänden) bedingt sein kann. Die in den Gewerkschaften organisierten "Insider" verweigern sich Lohnsenkungen, da sie aus egoistischen Gründen nicht auf die "Outsider" - Arbeitslose - Rücksicht nehmen, die bei niedrigen Reallohnsätzen Arbeit finden würden. Lohnrigiditäten können auch durch gesetzliche Mindestlöhne oder zu hohe Sozialtransfers in der Form von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld be-dingt sein. All diese Faktoren können, so das Argument, einen funktionswidrigen Mindestlohn etablieren - wie in der Abbildung 1 eingezeichnet - und dadurch Arbeitslosigkeit zementieren.

Wird der Arbeitsmarkt in dem Sinne flexibilisiert, dass der als dysfunktional erachtete Mindestlohn beseitigt wird, dann kommt es auf dem Arbeitsmarkt zu einer Unterbietungskonkurrenz, der die Löhne senkt. Der Reallohnsatz pendelt sich auf sein Gleichgewichtsniveau (wr0) mit der Beschäftigungsmenge A2 ein. Bei diesem Lohn ist Vollbeschäftigung erreicht, da jeder Arbeitnehmer, der zu diesem Lohn arbeiten will, einen Arbeitsplatz erhalten kann. Natürlich kann es freiwillige Arbeitslosigkeit geben, jedoch drückt diese ausschließlich eine hohe Präferenz der Wirtschaftssubjekte für Freizeit aus.

Abbildung 1: Neoklassischer Arbeitsmarkt in der Standardtheorie

 

Abbildung 2: Neoklassischer Arbeitsmarkt bei komplizierterer Arbeitsangebotsfunktion


Sowohl die Angebotsfunktion als auch die Nachfragefunktion in der Abbildung 1 sind auf methodisch weichem Grund gebaut. Beginnen wir mit der Angebotsfunktion. Diese ist keineswegs aus dem neoklassischen mikroökonomischen Kalkül der Wirtschaftssubjekte ableitbar (10).Wirtschaftssubjekte können - nach den eigenen Annahmen des neoklassischen Ansatzes - bei Lohnerhöhungen ihre Arbeit auch einschränken. Dies wird dann auftreten, wenn sie bei hohem und steigendem Einkommen dem Gut Freizeit einen hohen Wert bemessen (Freizeiteffekt). Auch ist völlig offen, ob Wirtschaftssubjekte bei fallenden Reallohnsätzen weniger arbeiten. Haben sie nämlich feste Verpflichtungen, wie beispielsweise die Abzahlung von Krediten für Haus und Auto oder Ausgaben aufgrund der Existenz von Kindern, dann werden sie bei sinkenden Löhnen mehr Arbeit anbieten und nicht weniger (Armutseffekt). Nähern sich die Löhne dem Existenzminimum, dann wird aufgrund des Armutseffektes jede weitere Lohnsenkung mehr oder weniger automatisch zur Zunahme des Arbeitsangebots führen. Dieser Effekt ist aus vielen Entwicklungsländern bekannt, jedoch auch aus Industrieländern, die durch ein Segment mit relativ sehr niedrigen Löhnen charakterisiert sind. In diesem Segment nehmen die Menschen häufig zwei oder mehr Arbeitsstellen an, um ihre Konsumwünsche, die kulturell bestimmt sind, einigermaßen befriedigen zu können.

In Abbildung 2 ist der Arbeitsmarkt mit einer Arbeitsangebotsfunktion dargestellt, die plausibel ist. Bei niedrigen Reallöhnen steigt bei sinkenden Reallohnsätzen das Arbeitsangebot aufgrund des Armutseffektes, während bei hohen Reallöhnen das Arbeitsangebot bei steigenden Reallohnsätzen aufgrund des Freizeiteffektes sinkt. In dem angegebenen Fall gibt es vier Gleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt, die mit unterschiedlichen Reallohnsätzen und Beschäftigungsniveaus einhergehen (11). Aus Sicht der Arbeitnehmer dürfte das Gleichgewicht mit dem niedrigsten Reallohnsatz und dem größten Beschäftigungsvolumen das ungünstigste sein. Denn bei diesem Gleichgewicht muss für niedrige Löhne sehr viel gearbeitet werden (12). Gehen wir von einer Ungleichgewichtssituation aus, die durch einen Reallohnsatz entsprechend des eingezeichneten Mindestlohns charakterisiert ist. Letzterer mag für Lohnrigiditäten stehen, die durch Tarifverhandlungen, Transferzahlungen, gesetzlich Mindestlöhne etc. entstehen. Bei diesem Mindestlohn ist das Arbeitsangebot größer als die Arbeitsnachfrage. Ohne die Existenz der Lohnrigidität würden aufgrund des Angebotsüberhangs die Löhne zu sinken beginnen. Unterstellen wir nun, der Mindestlohn wird durch Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt abgeschafft. Was passiert? Die Löhne werden sinken und die Ökonomie bewegt sich in Richtung des "schlechten" Gleichgewichts mit sehr niedrigen Reallöhnen und großem Arbeitsvolumen. Soll ein solches "schlechtes" Gleichgewicht verhindert werden, dann sind selbst im neoklassischen Paradigma Mindestlöhne sinnvoll (13). Funktional wäre in der beschriebenen Konstellation eine Erhöhung der Mindestlöhne auf den Reallohnsatz war in Abbildung 2. In diesem Fall könnte eines der "guten" Gleichgewichte erreicht werden.

Kommen wir nun zur Arbeitsnachfragefunktion. Aus der Logik eines einzelnen Betriebes erscheint es klar, dass bei sinkenden Löhnen mehr Arbeiter eingestellt werden. Denn sinken die Löhne bei einem Unternehmen und bei allen anderen nicht, dann hat das betroffene Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil und kann auf Kosten anderer Unternehmen expandieren. Ob aus einer volkswirtschaftlichen Sicht ein Sinken der Löhne zu einer höheren Nachfrage nach Arbeit führt, ist freilich eine weitaus komplexere Frage. Eine lange und verdrängte Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg hat gezeigt, dass die in den obigen Abbildungen eingezeichneten Arbeitsnachfragefunktionen einen extremen Spezialfall unterstellen. Um zu solchen schönen Funktio-nen zu kommen, muss die Existenz nur eines einzigen Kapitalgutes unterstellt werden. In einer Welt mit mehr als einem Kapitalgut gibt es keine eindeutige Beziehung mehr zwischen Reallöhnen und Arbeitsnachfrage. Mit steigenden Reallohnsätzen kann die Beschäftigung steigen, mit fallenden kann sie sinken (14).
Dieser für die simple Neoklassik so unangenehme Effekt hängt wiederum mit der Existenz von Kreislaufindustrien, also der industriellen Verflechtung zusammen (vgl. die Argumentation oben). Kommt es zu Veränderungen des Lohnniveaus, dann werden unterschiedliche Branchen unterschiedlich betroffen. War vor der Veränderung der Löhne die Profitrate in allen Branchen gleich - ein Basisannahme jeder theoretischen Volkswirtschaftslehre - , dann ist sie nach der Veränderung der Löhne nicht mehr gleich, da arbeitsintensive Industrien beispielsweise von Lohnerhöhungen stärker betroffen werden als kapitalintensive. Passen sich die Preise in der "ersten" Runde so an, dass die Profitrate wieder in allen Branchen den gleichen Wert annimmt, dann bedingt dies eine neue Struktur der relativen Preise. Dies wird bei Unternehmen zur Wahl einer anderen Technik führen. Da die neuen Preise auch die Preise von Kapitalgütern verändert haben und Branchen davon unterschiedlich betroffen sind, muss sich die Struktur der Preise erneut ändern. Es kommt zu einer "zweiten" Runde, der eine "dritte" folgt etc. Das neue Gleichgewicht wird durch einen anderen Wert des Kapitalbestandes, eine andere Technik und ein anderes Beschäftigungsvolumen gekennzeichnet. Die Beschäftigung mag steigen oder fallen (vgl. Sraffa 1960). Die Zerstörung der für die simple neoklassische Argumentation so wichtige Nachfragefunktion nach Arbeit kann nur verhindert werden, wenn die Existenz nur eines Kapitalgutes bzw. einer einzigen Branche in der Ökonomie unterstellt wird. Der Preis dieser Annahme ist hoch, da sie Marktprozesse aus dem Modell kippt, die es gerade zu modellieren gilt.

Wohlgemerkt, diese Erkenntnisse werden nicht durch eine Kritik des neoklassischen Paradigmas von "außen" abgeleitet, sondern entstammen dem neoklassischen mikroökonomischen Ansatz in der Tradition von Léon Walras, der gerade die Überlegenheit des neoklassischen Ansatzes belegen sol (15). Das Zerbröseln der simplen Nachfragefunktion nach Arbeit trifft die neoklassischen wirtschaftspolitischen Empfehlungen ins Mark, da mit dieser Erkenntnis die gesamte Debatte um die Flexibilisierung der Arbeitmärkte mit dem Ziel der Absenkung des Lohnniveaus obsolet wird (16).

 

4. Die keynesianische Kritik am Hartz-Konzept

Der keynesianische Ansatz rückt den Vermögens- und Gütermarkt ins Zentrum der Analyse und nicht den Arbeitsmarkt. Dadurch ändert sich der Blickwinkel auf die Ökonomie komplett und damit auch die beschäftigungspolitischen Konzepte. Besteht das Credo des simplen neoklassischen Ansatzes in der Liberalisierung des Arbeitsmarktes, dann besteht es im Keynesianismus in der Förderung der Investitionstätigkeit und der Steigerung der aggregierten Nachfrage. Denn es ist das Niveau der Nachfrage, was letztlich das Produktionsvolumen bestimmt (vgl. Keynes 1936).

Investitionen stellen den Motor der Ökonomie dar, da sie die aggregierte Nachfrage wesentlich determinieren. Investitionen und Produktionsprozesse müssen in kapitalistischen Ökonomien generell durch Geld finanziert werden, wobei die Finanzierung der Investition bzw. Produktion vorausgeht. Bei der Finanzierung wirken mehrere Faktoren zusammen. Zunächst muss die Zentralbank Geld an die Geschäftsbanken verleihen. Die Banken geben wiederum Kredite an das Publikum, wobei neben Zentralbankkrediten Depositen des Publikums die zweite Refinanzierungsquelle der Banken sind. Neben dem Bankensystem können Haushalte direkt Kredite an den Unternehmenssektor geben oder Aktien kaufen. Schließlich treten zwischen den Haushalts- und den Unternehmenssektor noch Finanzintermediäre wie Investmentfonds etc. Zudem können Unternehmen auch mit eigenen Mitteln (Selbstfinanzierung) Produktionsprozesse durchführen. Wie kompliziert der Prozess im Einzelnen auch ist, es ergibt sich ein Finanzvolumen, das mit dem Investitions- und Produktionsvolumen korrespondiert. Unternehmen nutzen die finanziellen Mittel, um Arbeitskräfte zu mieten und Produktionsmittel zu kaufen. Indem die Unternehmen die Gütererzeugung organisieren, bewirken sie zugleich den volkswirtschaftlichen Einkommensbildungsprozess. Mit Hilfe der geschaffenen Einkommen, die zum größten Teil an die Haushalte fließen, fragen diese Konsumgüter nach und/oder sparen. Sobald Haushalte sparen, bauen sie eine Vermögensposition auf. Einkommensbildung, Ersparnisbildung und Vermögensbildung laufen in einer Ökonomie somit simultan ab (vgl. Hei-ne/Herr 2001). Märkte sind in aller Regel so über Preis-Mengen-Beziehungen definiert, dass eine Veränderung der Preise zu einer Veränderung der nachgefragten und angebotenen Mengen führt. Dieser Mechanismus gilt im keynesianischen Ansatz für den Arbeitsmarkt aber nicht. Vielmehr bestimmt der Umfang des Produktionsvolumens - bei gegebener Technik - das Beschäftigungsniveau (17). Auf dem Arbeitsmarkt reflektieren sich bei der Arbeitsnachfrage lediglich Entscheidungen, die zuvor auf dem Vermögens- und Gütermarkt getroffen wurden. Gleichgültig wie die Arbeitsangebotsfunktion im Einzelnen konstruiert wird, auf dem Arbeitsmarkt ist ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht ein unwahrscheinlicher Zufall. Insofern sind keynesianische Vorstellungen durch eine Hierarchie der Märkte geprägt, wobei der Vermögensmarkt dominiert und der Arbeitsmarkt der dominierte Markt ist, der von sich aus die Beschäftigung nicht erhöhen kann.

Veränderungen der Löhne können nach keynesianischer Ansicht keine Vollbeschäftigung herstellen. Die Lohnkosten gehen vielmehr als Kostenfaktor in die Preise der erstellten Güter ein und sind der wichtigste Faktor zu Bestimmung des Preisniveaus (vgl. Keynes 1930; Riese 2001, Heine/Herr 2002). Dann führen Lohnsenkungen ebenso wenig wie eine Senkung der Lohnnebenkosten zu mehr Beschäftigung, sondern ceteris paribus zu sinkenden Preisen. Die Lohnentwicklung kann auch die Verteilung zwischen Lohn und Profit nicht ändern, da beispielsweise Lohnerhöhungen letztlich immer auf die Preise überwälzt werden. Allerdings bestimmen Lohnverhandlungen die Struktur der Löhne:

"Mit anderen Worten, der Kampf um die Geldlöhne beeinflusst in erster Linie die Verteilung der Summe der Reallöhne zwischen den verschiednen Arbeitnehmergruppen und nicht deren Durchschnittsbetrag je Beschäftigungseinheit... Die Vereinigung einer Gruppe von Arbeitern bewirkt den Schutz des verhältnismäßigen Reallohnes. Das allgemeine Niveau der Reallöhne hängt von den anderen Kräften der Wirtschaftsordnung ab (18)."(Keynes 1936: 12)

Der Arbeitsmarkt hat gleichwohl nach keynesianischen Vorstellungen eine wichtige Funktion. Bei Berücksichtigung von Produktivitätsentwicklungen wird eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik zum nominellen Anker des Preisniveaus. Beträgt die Zielinflationsrate beispielsweise 1,5% und die Produktivitätserhöhung 2%, dann erhöhen sich Lohnstückkosten und Preisniveau in etwa entsprechend der Zielinflationsrate, wenn die nominellen Bruttolöhne um 3,5% steigen (19). Ein funktionierender Lohnanker ist für die ökonomische Entwicklung eines Landes von großer Bedeutung. Liegen Lohnerhöhungen deutlich über der Produktivitätsentwicklung, dann kommt es zu inflationären Prozessen, welche die Zentralbank früher oder später mit steigenden Zinssätzen mit dem Resultat sinkender Investitionen und steigender Arbeitslosigkeit bekämpft. Liegen die Lohnerhöhungen unter der Produktivitätsentwicklung oder sinken die Löhne gar, ergeben sich deflationäre Entwicklungen. Deflationen führen zur Erhöhung der realen Schuldenlast der Unternehmen, da Umsatzerlöse nominal sinken und der Schuldendienst unverändert bleibt. Bei der Erwartung sinkender Preise werden zudem Investitions- und Konsumentscheidungen in die Zukunft verschoben. Deflationen führen ab einer gewissen Intensität mit großer Gewissheit in eine ökonomische Katastrophe. Da die Geldpolitik bei der üblicherweise geringen Zinselastizität der Investitionen in einer Krise eine schwache Stellung zur Bekämpfung von Deflationen einnimmt, wird gerade in einer tiefen und anhaltenden Krise der nominelle Lohnanker von existentieller Bedeutung.

Vor dem Hintergrund der keynesianischen Analyse des Arbeitsmarktes bergen die Hartz-Vorschläge die Gefahr in sich, zu einer deflationären Entwicklung beizutragen. Zwar setzt der Hartz-Ansatz nicht explizit auf eine generelle Lohnsenkung, jedoch sehr deutlich auf eine größere Lohnspreizung und den Aufbau von Niedriglohnarbeitsplätzen. Die Absenkung der Löhne der Niedrigverdiener kann jedoch das ganze Lohngefüge in Bewegung bringen und zu deflationären Tendenzen führen. Verstärkt wird diese Gefahr, da gleichzeitig mit der Durchführung der Reformen der Hartz-Kommission von Politik und Arbeitgebern sehr niedrige Lohnerhöhungen gefordert werden und auch "Nullrunden" ins Gespräch gebracht werden. Sollte sich die Lohnspreizung nach untern ausweiten und gleichzeitig das allgemeine Lohnniveau sinken, dann wäre der Weg in die Deflation mit all ihren negativen Effekten vorprogrammiert. Europa würde dann - geführt durch Deutschland - Japan folgen, das schon seit einem Jahrzehnt in Stagnation und deflationären Entwicklungen steckt. Angebracht wären Schritte, den sowieso erodierenden Lohnanker in Deutschland zu festigen. Die Hartz-Reformen tragen dazu nichts bei (20).

Populär ist die These der Entkopplung zwischen Beschäftigung und Wachstum. Jedoch gibt es für diese These keine Begründung. Denn es gilt zweifelsfrei, dass sich die Beschäftigungsentwicklung mittelfristig durch die Wachstumsrate des Sozialproduktes minus der Produktivitätsentwicklung ergibt. Steigt die Produktivität beispielsweise um 2%, dann ergeben sich nur dann positive Beschäftigungseffekte, wenn die Wachstumsrate über 2% liegt. Was die letzten Jahrzehnte zu beobachten war, war keine Entkopplung von Beschäftigung und Wachstum, sondern eine langfristige Ab-nahme des prozentualen Wachstums bei relativ stabiler Produktivitätsentwicklung.

Bei gegebener Bevölkerung und gegebener Erwerbsquote ergeben sich aus keynesianischer Sicht im Prinzip drei Strategien zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit.
Erstens: Erhöhung der Wachstumsrate deutlich über den Produktivitätsanstieg hinaus insbesondere durch Stimulierung der Investitionstätigkeit. Rückgrat einer solchen Strategie ist das funktionale Zusammenwirken zwischen Lohnentwicklung - in der Tendenz Lohnerhöhungen leicht über der Produktivitätsentwicklung -, Zentralbank niedrige Zinssätze, wann immer möglich - und öffentlichen Haushalten - antizyklische Fiskalpolitik und Investitionen in Infrastruktur und Bildung etc. In der gegenwärtigen Konstellation müsste ein solches Wachstumsregime in einem europäischen Kontext geschaffen werden. Bisher fehlen nahezu alle Voraussetzungen für die Schaffung eines solchen Regimes, da es keine europäische Fiskalpolitik gibt, kein europäischer Lohnbildungsmechanismus existiert und die Europäische Zentralbank bei ihrer Geldpolitik an alten Zöpfen festhält (vgl. Heine/Herr 2002a). Ein solches Wachstumsregime kann hohe Beschäftigung bei vergleichsweise egalitärer Einkommensverteilung erreichen. Empfehlenswert wäre eine Kommission, die Vorschläge auf diesem Gebiet entwickelt.

Zweitens: Reduzierung der Arbeitszeiten in Form von längerem Urlaub, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Weiterbildungsphasen im Berufsleben etc. Dies würde eine Senkung der realen Lohnsumme der einzelnen Beschäftigten bedeuten, die dafür mehr Zeit für andere Aktivitäten zur Verfügung hätten. Denn eine Arbeitszeitverkürzung bei gleicher Lohnsumme pro Arbeitnehmer würde die Kosten der Unternehmen erhöhen und einen dysfunktionalen Inflationsschub auslösen. Die reale Lohnsumme pro Beschäftigter würde auf alle Fälle fallen. Selbstverständlich könnte ein Teil der jährlichen Produktivitätserhöhung für Arbeitszeitverkürzung genutzt werden, so dass die realen Lohnsummen auch bei weniger Arbeitsstunden pro Kopf nicht fallen müssen. Setzt man nicht (allein) auf Wachstum - was langfristig schon aus ökologischen Gründen schwierig ist -, dann kann der erste Weg mit dem zweiten kombiniert werden.

Drittens: Senkung der durchschnittlichen Produktivität in der Ökonomie. Diesen Weg schlägt de facto die Hartz-Kommission vor, die damit dem US-amerikanischen und britischen Modell folgt. Denn eine stärkere Lohnspreizung in Richtung von Billigjobs und Förderung von arbeitsintensiven Beschäftigungsverhältnissen mit geringen Qualifikationsanforderungen in Einbahnindustrien wie persönlichen Dienstleitungen in Privathaushalten senkt künstlich die durchschnittliche Produktivität. Eine langfristig überzeugende Entwicklungsperspektive für eine Gesellschaft ist dies weder ökonomisch noch politisch. In diesem Sinne ist die Philosophie, die hinter den Harz-Vorschlägen steckt, abzulehnen. Davon unberührt bleibt, dass bessere Vermittlungsbemühungen der Bundesanstalt für Arbeit, Förderung von Selbständigkeit oder ähnliche Elemente der Harz-Vorschläge unterstützenswert sind.

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 129, 32. Jg., 2002, Nr. 4, Hansjörg Herr

  1. In die verdeckte Arbeitslosigkeit gehen ein: das Arbeitslosenäquivalent der Kurzarbeit, Personen in beschäftigungsschaffenden Maßnahmen, Personen in beruflicher Weiterbildung und Empfänger von vorzeitiger Altersrente (vgl. Sachverständigenrat 2002). zurück

  2. Die Lohnstruktur sowie vielfältige Formen der sozialen Absicherung können über ihre Wirkung auf die Motivation der Arbeitnehmer die Arbeitsproduktivität verändern. So arbeitet ein sozial abgesicherter Arbeitnehmer vermutlich motivierter als ein Arbeitnehmer, der nicht abgesichert ist. Auch können Institutionalisierungen, welche die Kosten erhöhen - etwa längerer Urlaub oder aufwendige Unfallschutzmaßnahmen - die Produktivität so erhöhen, dass die Lohnstückkosten sinken. Auf diese Aspekte wird in diesem Beitrag aber nicht eingegangen. zurück

  3. Zusammen mit der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Kosten für Beschäftigte in privaten Haushalten soll diese Regelung zu einer Verringerung der Schwarzarbeit führen. zurück

  4. Zu den Details vgl. Bundesanstalt für Arbeit (2002). zurück

  5. Im September 1999 waren 621.467 Personen ein Jahr bis unter 2 Jahre arbeitslos (15,8% der Arbeitslosen) und 1.378.696 Personen länger als ein Jahr (35% der Arbeitslosen), vgl. Bundesanstalt für Arbeit (2002). zurück

  6. Es handelt sich um die von Sraffa (1960) untersuchte Ökonomie. Sraffa arbeitete heraus, dass sich makroökonomisch die Zinsrate (Profitrate) ergibt, wenn die Löhne vorgegeben werden. Wird die Zinsrate vorgegeben, resultiert der Lohnsatz als Restgröße (vgl. dazu auch Heine/Herr 2002). zurück

  7. Diesen Schluss kann man sowohl auf der Grundlage von Sraffa (1960) ziehen als auch aus dem mikroökonomischen Totalmodell in der Tradition von Walras, dem Begründer der neoklassischen Mikroökonomie (vgl. Heine/Herr 2002). zurück

  8. Klarer äußert sich der Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik in Köln: "Könnte dieser Prozess (der Lohnsenkung, d. V.) nicht auch in Gang gesetzt werden, wenn man den Arbeitslosen ermöglichte, freie Arbeitsverträge zu vereinbaren? Ohne Zweifel wäre dies ein marktkonformer und vergleichsweise schneller Weg zu mehr Beschäftigung. Man muss aber daran denken, dass ein erhebliches Defizit an Arbeitsplätzen besteht. Ein abrupter Übergang zu Marktlöhnen würde möglicherweise sehr starke, wenn auch vorübergehende Lohnsenkungen auslösen, weil die Unternehmen Zeit brauchen, zusätzliche produktive Arbeitsplätze zu schaffen" (Eekhoff 2002). zurück

  9. Hinter der Nachfragefunktion nach Arbeit stehen eine Reihe problematischer Annahmen. Unterstellt wird eine makroökonomische Produktionsfunktion, also eine Produktionsfunktion, welche die unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Branchen zu einer Fabrik zusammenschmelzt. Dies geht nur, wenn ausschließlich ein Kapitalgut existiert. Unterstellt werden zudem konstante Skalenerträge, die zum Ausdruck bringen, dass unabhängig vom schon realisierten Produktionsvolumen jede weitere Erhöhung aller Inputfaktoren mit einem konstanten Faktor die Produktionsmenge proportionale steigen lässt. Diese Annahme garantiert ein fallendes physisches Grenzprodukte des Faktors Arbeit. Diese Grenzertragskurve ist mit der Nachfrage nach Arbeit identisch, denn die Unternehmen maximieren den Arbeitseinsatz immer dann, wenn das Grenzprodukt der Arbeit dem Reallohnsatz entspricht (vgl. zur genaueren Ableitung Heine/Herr 2002). zurück

  10. Es muss betont werden, dass viele Neoklassiker die Notwendigkeit der Mikrofundierung makroökonomischer Funktionen in den Vordergrund rücken. Eine strikte Mikrofundierung der Makroökonomie ist jedoch nicht zu leisten. Ein Beispiel ist die aggregierte Angebotsfunktion auf dem Arbeitsmarkt, die rein verhaltenstheoretisch ableitbar ist und damit von historischen und kulturellen Faktoren abhängt (vgl. Stiglitz 1992; Heine/Herr 1998). zurück

  11. Für das mikroökonomische neoklassische Gleichgewichtsmodell sind mehr als eine Gleichgewichtslösung keineswegs un-gewöhnlich, sondern entsprechen dem allgemeinen Fall. zurück

  12. Mit dem neoklassischen Wohlfahrtskriterium (Pareto-Kriterium) lässt sich nicht entscheiden, welches Gleichgewicht besser ist, da ein individueller Nutzenvergleich nicht möglich ist und die drei Gleichgewichte den einzelnen Wirtschaftssubjekten subjektiv unterschiedliche Nutzen liefern. Nur eine politische Entscheidung ist in der Lage, eine Hierarchie der verschiedenen Gleichgewichtspunkte zu geben. zurück

  13. Ein weiteres Problem taucht auf. Befindet sich die Ökonomie in einem Ungleichgewicht, dann kann die partielle Betrachtung des Arbeitsmarktes zu falschen Schlussfolgerungen führen. Es kann dann relativ einfach gezeigt werden, dass eine Lohnsenkung, die aus der partiellen Analyse des Arbeitsmarktes als sinnvoll erscheint, bei der simultanen Betrachtung aller Märkte falsch ist. Eine Lohnsenkung würde das Ungleichgewicht in der Ökonomie noch verschärfen. (Ein einfaches Zah-lenbeispiel für diesen Fall findet sich in Heine/Herr 2002, Kapitel 2). zurück

  14. Auch der eindeutige Zusammenhang zwischen Kapitalintensität und Zinssatz, der in der simplen Variante der neoklassischen Theorie unterstellt wird, gilt bei mehr als einem Kapitalgut nicht mehr. zurück

  15. Verdeutlicht wird die Argumentation beispielsweise von Bliss (1975), jedoch auch von Samuelson (1966), der sich lange gegen die Zerstörung der simplen neoklassischen "Parabeln" wie der wohlgeformten Nachfragefunktion nach Arbeit gewehrt hat. zurück

  16. Es sei angemerkt, dass in einer Welt mit nur einem Kapitalgut auch Karl Marx eine konsistente Wert- und Preistheorie lie-fern kann, da es dann das sogenannte Transformationsproblem von Arbeitswerten in Preise nicht gibt. zurück

  17. Auch hier muss akzeptiert werden, dass jeder Veränderung der Verteilung zu einer neuren Technikwahl führt, die sich nicht prognostizieren lässt. zurück

  18. Die Verteilung wird im keynesianischen Ansatz wesentlich durch den Zinssatz bestimmt, der sich auf dem Vermögensmarkt ergibt. Reallöhne sind dann die resultierenden Größen. zurück

  19. Die Europäische Zentralbank hat eine Zielinflationsrate zwischen 0-2%. Die Produktivitätsentwicklung lag in Deutschland während der letzten Jahre um die 2,5%. zurück

  20. In Japan steigen die Geldlöhne weniger als die Produktivität, da die Arbeitnehmer bei ihren Lohnforderungen äußerst zurückhaltend sind - seit einem Jahrzehnt ohne Erfolg! Das japanische Tarifvertragswesen fördert deflationäre Entwicklungen, da Lohnverhandlungen auf Betriebsebene abgeschlossen werden und die Arbeitnehmer üben Lohnverzicht, um "ihren" Betrieb in einer schwierigen Lage zu stützen. Tun dies alle, dann nützt dies keinem. Im Gegenteil, es entsteht eine deflationäre Entwicklung. zurück

 

 

Litaratur

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