Elektronische Demokratie: Visionen einer technischen Erneuerung des politischen Systems?

Von Hans J. Kleinsteuber

 

Demokratie, das ist bei erster Annäherung ein Verfahren, bei dem sich die Gemeinschaft der StaatsbürgerInnen unter Beachtung bestimmter Regeln selbst Gesetze gibt, denen sie sodann aus Einsicht folgt. Es geht bei der Demokratie, wenn man in die lange Geschichte demokratischer Prozedere schaut, keineswegs nur um Verfassungen, öffentliches Recht, Wahlvorgänge oder parlamentarische Mehrheitsentscheidungen. Ebenso wichtig sind viele andere Rahmenbedingungen, etwa der Raum bzw. Ort demokratischer Arbeit (die Agora, der Plenarsaal), der Umgang mit Zeit und Verfahren (Regeln zur Entscheidungsfällung, Umgang mit Minderheiten), die Delegierung von Macht et cetera. Dazu kommen die zahlreichen Spielarten der demokratischen Willensbildung, angesiedelt auf einem breiten Spektrum zwischen den Polen direkter und repräsentativer Demokratie. Hier gilt es jeweils zu prüfen, inwieweit die derzeit sich ausbreitenden digitalen Informations- und Kommunikationstechniken das demokratische Prinzip weiterentwickeln und stärken können.

Dieser Beitrag beginnt damit, das Verhältnis von Demokratie und Technik zu thematisieren, darauf werden "demokratische Technik" und "technischer Staat" gegeneinander abgeglichen. In einem weiteren Teil wird der Umgang mit dem Motiv "elektronische Demokratie" in der Enquete-Kommission "Zukunft der Medien" des Deutschen Bundestages erörtert (in welcher der Autor Sachverständiger war).

 

Demokratie und Technik: Repräsentation

Demokratie im oben skizzierten Sinne hat ein relativ direktes Verhältnis zur materiellen Welt, zu der auch Technik zu rechnen ist. Ihre Praxis ergibt sich wesentlich aus dem jeweils zur Verfügung stehenden Kenntnisstand in Naturwissenschaft und Ingenieurwissen. In Gesellschaften der Antike erfolgte die Willensbildung unter "Freien" häufig unter offenem Himmel, was gleichermaßen mit dem Nichtvorhandensein von Versammlungsgebäuden, nomadisierenden Lebensweisen oder auch mythischen Vorstellungen verbunden war. Wenn sich unsere germanischen Vorfahren unter einer Linde versammelten (CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber warnte einmal vor der "elektronischen Dorflinde"), so hatte das sowohl reale (es fehlten geeignete Räumlichkeiten) wie magische Grundlagen (die Nähe zu den Göttern). Als schönes Zitat dieses Zusammenhangs tagt seit über einhundert Jahren der Senat der Hansestadt Hamburg in seinem Sitzungssaal (dem Senatsgehege) unter einem aufwendig konstruierten Lichtschacht. Er soll die Idee vom altgermanischen Thing symbolisieren, verbunden mit der Vorstellung, daß die Senatoren niemanden über sich tolerieren.

Der sich zunehmend differenzierende Flächenstaat, wie er mit der Nationenbildung zu Beginn der Neuzeit entstand, erforderte neue Verfahren der Willensbildung per Repräsentation. Der politische Wille der Region wurde dabei in der Zentrale durch einen im Distrikt gewählten Repräsentanten vertreten, der in räumlicher Distanz arbeitete und folglich eigenständig entscheiden mußte ("er ist nur seinem Gewissen verantwortlich"). Als z. B. vor gut 200 Jahren die US-Verfassung konzipiert wurde, hatte man zu überlegen, wie in einem vergleichsweise riesigen Territorium demokratische Politik überhaupt realisiert werden kann. Nationale Politik war schon deshalb kaum möglich, weil es in den dreizehn Gründerkolonien kaum eine Vorstellung von nationalen Aufgaben und nationalen Politikern gab. Da aber an der Spitze der Vereinigten Staaten ein Präsident als Chef der Exekutive etabliert wurde, ausgestattet mit manchen Rechten eines "Ersatzmonarchen", galt es, spezifische Verfahren für seine Rekrutierung zu ersinnen. Man schätzte den damaligen Stand von Kommunikation und Verkehr realistisch ein und legte fest, daß Elektoren in allen Teilen des Landes gewählt werden, die als Electoral College dann an einem zentralen Punkt zusammenkommen und den Präsidenten küren. Wohlgemerkt einen Präsidenten, der seinerzeit nicht direkt zur Wahl stand und angesichts der kümmerlichen Situation politischer Kommunikation in Teilen des Landes unbekannt war. Zwischen der Wahl der Elektoren und der eigentlichen Präsidentenkür, so schreibt es die Verfassung vor, haben angesichts der Verkehrsmöglichkeiten - seinerzeit mit der Geschwindigkeit von Pferd oder Schiff - viele Wochen zu liegen. Die US-Verfassung wurde bisher niemals umgeschrieben, nur erweitert, folglich gibt es das Electoral College heute noch. Es wirkt angesichts moderner Techniken von Kommunikation und Verkehr reichlich archaisch.

Diese historischen Beispiele sollen verdeutlichen, daß es schon immer eine vergleichsweise enge Querverbindung zwischen Demokratie und Technik gab. Diese Einsicht bestärkt uns darin, daß nun angesichts neuer Informationstechniken das demokratische Gefüge nicht erstmals technisiert, sondern lediglich auf neue Rahmenbedingungen eingestellt wird.

 

Demokratie und Technik: Zur Ambivalenz der Begriffe

Der Konnex zwischen Demokratie und Technik läßt sich auch sprachlich festmachen. Der Gouverneur, ein gewählter oder ernannter oberster Vertreter eines Einzelstaates oder einer Provinz, leitet sich ebenso von dem griechischen Steuermann Kybernetes ab wie die für die Computerentwicklung zentrale Kybernetik (oder auch der Cyberspace). Für beide stehen Theorie und Praxis des Regelns und Steuerns - einer Maschine oder eines Gemeinwesens - im Mittelpunkt. Nachfolgend wird die amerikanische Verfassungsordnung zugrundegelegt, weil in ihr mechanische Bezüge besonders deutlich sind. Ein bekannter Ansatz spricht von einer "Republic of Technology" (Borstin) und meint damit ein politisches System, das erfolgreiche Technikstrukturen in erfolgreiche Politikstrukturen umzusetzen versucht. Eine Verfassung wird in diesem Denken zu "politischer Technologie".

Die derzeit bei uns vielbeschworene Regulierung bezeichnet in den anglo-amerikanischen Ursprungsländern so etwas wie Ausgleich zwischen divergierenden Interessen und Einflußkräften. Mechanisch gesprochen, geht es vor allem um steuerbare Selbstregulierung. Etwas ähnliches leistet auch der Fliehkraftregler (etwa auf der Dampfmaschine) und folglich heißt er im Ursprungsland USA auch Regulator. Erst deutsche Juristen haben aus dieser traditionell "regelnden" Funktion staatlicher Behörden eine rein hoheitliche gemacht, der Begriff wurde im Paragraphendenken seiner technischen Metaphorik und damit auch seiner Sinnhaftigkeit beraubt: Regularien unterscheiden sich nicht mehr von Gesetzen.

Schließlich nehmen wir uns den zentralen Begriff jeder demokratischen Ordnung vor, den eines in Gewalten geteilten demokratischen Systems (Separation of Power). In allen westlichen Sprachen meint der Ausgangsbegriff Power (englisch), Pouvoir (französisch), Poder (spanisch) so etwas wie Kraft, Energie, Dynamik, Durchsetzungsstärke oder auch Macht. Derselbe Terminus kommt z. B. im Kraftwerk (Power Station) oder in der Pferdestärke (Horse Power) vor. Die technische Metaphorik ist offensichtlich. Erst in der Eindeutschung dieses Konzepts von Power durch hiesige Staatslehrer als "Gewalt" wurde aus einem technisch schillernden Begriff einer, der eher biologisch konnotiert und sich dabei eng an das Konzept vom Staat als einzig legitimem Gewaltträger lehnt.

Diese sprachliche Verschiebung verdeutlicht zweierlei:

(1) Im westlichen Staatsverständnis gehört zur Politik der Umgang mit Macht, letztere verstanden als Dynamik oder Energie und - da der Mißbrauch als prinzipiell gefährlich gilt - auch deren Kontrolle. Erst im deutschen Sprachgebrauch verschwindet die technische Dimension von Power, ein Begriff, der folgerichtig als Macht und nicht als Gewalt übersetzt werden sollte.

(2) Während in anderen westlichen Staaten Gewalt als letzte, wenn irgend möglich zu vermeidende Ressource von Politik bestimmt wird, wird sie bei uns zum Konstituens von Staatlichkeit. Der Gewaltstaat entsteht, so könnte man verkürzt behaupten, in der Entleerung technischer Metaphern des Staates.

Aus diesen - sicherlich kursorischen - Darlegungen ist zu ziehen, daß außerhalb des deutschen Kultur- und Denkkreises ein enger Zusammenhang zwischen Demokratie und Technik relativ unbefangen angenommen wird. Ein Beispiel: In den USA sind schon vor Jahrzehnten "Wahlmaschinen" eingesetzt worden, also maschinelle Zähler in der Wahlkabine, bei denen mit Umlegen eines Schalters die Stimme abgegeben wurde. In einem Lehrbuch werden sie wie folgt beschrieben: "On election day, millions of voters record their candidate choices on electric or electronic voting machines at the polling places. The voting machine is set up in the form of the party-column ballot." Der Vorteil dieser Maschinen war, daß die Ergebnisse nur schwer zu manipulieren waren und gleich nach Schließung des Wahllokals von Zählern abgelesen werden konnten. Nachteile fanden sich in den hohen Kosten und der schwierigen Handhabbarkeit. So entschied man sich offensichtlich, diese Option von Demokratie-Technisierung nicht weiter zu verfolgen. Aber das war eine ganz pragmatische Entscheidung, jenseits politischer Grundsatzpositionen.

 

"Demokratische Technik" oder "technischer Staat"?

Dem amerikanischen Technikkritiker Lewis Mumford hat einst Kategorien entwickelt, um "demokratische Technik" von "autoritärer Technik" unterscheiden zu können. Der Demokratiegehalt von Techniken erscheint Mumford hoch, wenn ihre Spezifikation z. B. menschliche Alternativen zuläßt, menschliche Eingriffe und menschliche Zielvorgaben erlaubt, auch solche, die völlig von denen des Systems abweichen. Mumford lehnte die "Pyramidenbauer" unseres Zeitalters, die Erfinder von Atombomben, von Raketen, von Computern (der Ansatz ist über zwanzig Jahre alt) ab, die von einem Mythos uneingeschränkter Macht erfüllt seien. Jenseits der unbestreitbaren Zeitgebundenheit erscheint diese Herangehensweise als Beurteilungsraster für die Sinnhaftigkeit neuer Techniklösungen gut geeignet. Technische Innovationen wie digitale Netze und das Internet müssen folglich ganz unbefangen auf ihre Demokratie-Tauglichkeit untersucht und entsprechend beurteilt werden. Weil der Diskurs zu Technik und Demokratie außerhalb Deutschlands so viel unverkrampfter und spielerischer geführt wird, finden wir dort unter Stichworten wie Teledemocracy, Electronic Democracy oder Online Democracy auch eine Fülle anregender Debatten und Ideen. Ihnen fehlt die theoretische Schwerfälligkeit und Grundsätzlichkeit des teutonischen Diskurses, sie setzen eher auf kleine Schritte und innovative Spiele.

 

In Deutschland: Vorstellungen vom "technischen Staat"

Wie bereits verdeutlicht, ist bei uns ein Denken, das Demokratie und Technik miteinander verbindet, kaum zu finden. Bedenken wir, daß die moderne Staatslehre in Deutschland mit Vorstellungen antrat, wonach der Staat - in Anlehnung an den deutschen Idealismus - als Idee auch außerhalb seiner Bürger bestehen könne. Viele dieser Ansätze, den deutschen Nationalstaat zu bestimmen, bauten zudem auf biologistische und sozialdarwinistische Analogien, der Weg etwa von der definitorisch dem Staat zugeordneten Gewalt zum "Recht des Stärkeren" ist nicht mehr weit. So entstanden in dieser Abkehr von technischen Metaphern Sichtweisen, von denen aus der Weg zu Rassismus und Germanendünkel näher wird.

Wenn Deutsche - selten genug - doch einmal über Technik und Staat nachdachten, so kamen sie zumeist zum Konzept des "technischen Staates", in dem Technik und Ingenieurwissen angebliche Sachzwänge entstehen lassen, welche der Politik ihre Entscheidungsfreiheiten rauben und sie auf das Exekutieren technischer Notwendigkeit reduzieren. In diesem konservativ-deterministischen Entwurf erscheint Demokratie entbehrlich, weil Politik sich darauf konzentrieren muß, einen technisch vorgegebenen Willen möglich effizient umzusetzen. Einer der neueren Vertreter dieses Ansatzes ist Helmut Schelsky, der damit allerdings an eine lange Tradition anknüpft. Mit anderen Worten: In Deutschland treffen wir auf einen spezifischen "Sonderweg" bei der Einschätzung von Technik und Staat, der durchaus Nähen zu dem anderen Sonderweg hat, nämlich den in die Verherrlichung des starken Führers.

Während Visionen des technischen Staates heute schwinden, tun wir uns doch schwer, den Zusammenhang von Demokratie und neuen Techniken wie Computer oder Kabel zu denken. Unten werden einzelne deutsche Ansätze aus vergangenen Jahrzehnten vorgestellt, die erkennen lassen, wie Unerfahrenheit und Technikgläubigkeit das Nachdenken darüber bei uns prägten. Es fällt uns offensichtlich noch schwer, Demokratie als ein Projekt in Bewegung, als ein sich ständig wandelndes und weiterentwickelendes Vorhaben zu interpretieren. Nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und dem faschistischen Terrorregime versuchte man bei uns lange, Demokratie nach dem Grundgesetz quasi unwandelbar festzuschreiben und so zu kanonisieren. Eng mit diesem Ansatz ist das Bemühen verknüpft, wegen negativer Erfahrungen mit Volksabstimmungen in der Weimarer Zeit, direktdemokratische Elemente aus der politischen Ordnung des Grundgesetzes fast vollständig herauszuhalten (vorgesehen sind Volksentscheide nur bei Neugliederung des Bundesgebiets). Mit dieser Ablehnung direktdemokratischer Willensbildung stehen wir im europäischen Vergleich inzwischen ziemlich alleine da, wenn man bedenkt, wie andererorten zentrale Zukunftsentscheidungen aus dem Parlament heraus an die Bevölkerung abgegeben werden. So wurde das Volk in Frankreich und Dänemark ganz selbstverständlich zur Annahme des EU-Vertrages von Maastricht befragt oder stimmte in Schweden und Österreich über Atomkraftwerke ab. Heute stellt sich die Frage nach Plebisziten bei uns neu, vor allem auch, weil es inzwischen Initativen zu Volksbegehren und Volksentscheid in vielen Bundesländern gibt. Könnten diese in einem totalvernetzten Deutschland einmal elektronisch abgehalten werden? Ist "Mehr Demokratie" digital herstellbar?

Bei uns wurde die sehr konventionelle Sichtweise des Grundgesetzes von Demokratie lange Zeit quasi heiliggesprochen. Im Extremfall führte dies dazu, daß eine "freiheitlich-demo-kratische Grundordnung" postuliert und deren Anerkennung zur Voraussetzung für den Eintritt in den öffentlichen Dienst gemacht wurde (Stichwort: Berufsverbote). Über die demokratische Gesinnung urteilten dann ausgerechnet Bürokraten, mitunter gar Geheimdienste - eine besonders perfide Variante des deutschen Sonderweges. So wurde zeitweise erwogen, WissenschaftlerInnen, die über Vor- und Nachteile der Rätedemokratie nachdachten, aus dem Hochschuldienst zu entfernen. Der sich so wehrhaft erklärende, seine KritikerInnen ausgrenzende Staat beförderte ein Klima von Unbeweglichkeit und Stigmatisierung, in dem ein kleinschrittiges Arbeiten an der Fortentwicklung von Demokratie fast unmöglich erscheint. Genau das aber wäre die richtige Reaktion auf die Herausforderung der elektronischen Demokratie. Gelassenheit und Pragmatismus sind gefragt.

 

Das Thema "Elektronische Demokratie" in der Enquete- Kommission

Von Anfang 1996 bis zum Sommer 1998 arbeitete eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur "Zukunft der Medien". Es lag nahe, das Thema elektronische Demokratie dort einzubringen. Legt man ihre Aufgabenstellung zugrunde, wie sie ihr das Parlament mitgegeben hatte, war dieses Vorhaben sicherlich zu rechtfertigen. Der Autor dieser Zeilen, Sachverständiger in der Kommission, initiierte folglich eine entsprechende Auseinandersetzung. Für mich war das nicht nur ein politisches Anliegen, ich verstand es auch als Projekt, als Test darauf, wie ein Ableger des Parlaments mit Fragen umgeht, die auch seine eigene Arbeit tangieren müssen. Bei dem Versuch, die Thematik in geeigneter Form einzubringen, ermutigte mich anfänglich der Vorsitzende der Kommission MdB Siegmar Mosdorf (SPD). Allerdings fiel mir schon seinerzeit auf, daß ich keine schriftliche Bestätigung für einen derartigen Auftrag vom Vorsitzenden erhalten konnte. Vielmehr wurde ich darauf verwiesen, daß die Kommission eine Arbeitsgruppe aus ihren Mitgliedern zu "Bürger und Staat 21" eingesetzt habe, in der entsprechende Erörterungen ihren Platz hätten. Sie wurde von dem MdB Dr. Martin Mayer (CSU) geleitet. Bei der konkreten Arbeit zeigte sich dann allerdings, daß der Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe als Abgeordneter der Regierungsseite an elektronischer Demokratie wenig Interesse zeigte. Für ihn standen Fragen der Verwaltungsrationalisierung und des besseren Bürgerzugangs bei Behörden im Vordergrund. So war unter seinem Vorsitz im September 1997 eine öffentliche Anhörung zum wohl eher nichtssagenden Thema "Nutzung von Informations- und Kommunikationstechniken in der öffentlichen Verwaltung. Auswirkungen auf die staatliche Souveränität und das politische System" organisiert worden.

Um das Thema elektronische Demokratie in die Kommission einzubringen - innerhalb oder außerhalb der Arbeitsgruppe Bürger und Staat 21 -, entwarf ich ein mehrseitiges Konzept für eine von der Enquete einzuberufende öffentliche Konferenz zum Thema. Die Idee dabei war - angesichts obiger Einschätzung naheliegend - internationale Erfahrungen zu dokumentieren und prominente ausländische Gäste einzuladen. Ebenso sollten PraktikerInnen von ersten Erfahrungen berichten. Mit dem Projekt scheiterte ich, kurz gesagt, kläglich. Der Anstoß versandete anfangs in den intransparenten und informellen Strukturen der Enquete-Bürokratie. Dabei verschwand als erstes der Begriff elektronische Demokratie und wich einem nicht gerade aussagekräftigen "Anwendungsformen neuer Medien im öffentlichen und staatlichen Bereich". Hintergrund war wohl, daß ein CSU-Abgeordneter den Begriff elektronische Demokratie nicht akzeptieren mochte.

Zum 2. Februar 1998 wurde schließlich zu einem nicht-öffentlichen Round-Table-Gespräch geladen, das (ohne jeder Begründung) neben inzwischen beschlossenen "Anwendungsformen neuer Medien im öffentlichen und staatlichen Bereich" nun wieder den Zusatz "Elektronische Demokratie" erhielt. Die Vortragenden waren ausschließlich deutsche Hochschullehrer, bei deren Zusammensetzung ein wesentliches Moment die Nähe zu den beiden großen Parteien war. Praktiker aus dem Bereich Politik und Internet oder Ausländer waren nicht vertreten. Dabei hatte die Botschaft der Vereinigten Staaten der Kommission angeboten, bei der Einladung und Finanzierung von Gästen aus Amerika behilflich zu sein. Im Ergebnis kam eine sicherlich interessante Gesprächsrunde zustande, die allerdings den in Bonn vertrauten Regeln von Honoratiorendiskurs und Parteienproporz folgte. Letztlich war auch nicht mehr zu klären, wer eigentlich für diese Einladung verantwortlich war, zu viele hatten irgendwie daran mitgewirkt. Angesichts dieser persönlich frustierenden Erfahrung schlug ich der Heinrich-Böll-Stiftung vor, das Thema elektronische Demokratie in die IMD-Tagung aufzunehmen, was geschah - und wofür ich allen Beteiligten Dank sage.

Enquete-Kommissionen beenden ihre Tätigkeit spätetestens mit Ende der Wahlperiode. Diese Kommission legte ihren Schlußbericht Ende Juni 1998 vor, gerade noch rechtzeitig für die letzte Sitzung des Bundestages. Für den Schlußbericht war auch ein Kapitel zu "Bürger und Staat 21" vorgesehen, für dessen Vorbereitung der obengenannte Abgordnete Mayer von der Regierungsseite zuständig war. In dem aus dieser Richtung vorgelegten Textentwurf tauchte der Begriff der elektronischen Demokratie (wie vorhersehbar) nicht auf. Ich kritisierte dies in der Kommission und erhielt den Auftrag einen ergänzenden Textentwurf zu schreiben. Er ging weitgehend in das Minderheitenvotum von Bündnis 90/Die Grünen ein, einzelne Passagen endeten auch im Mehrheitsbericht. (Vgl. den Text des Minderheitenvotums im Anschluß an diesen Beitrag).

Von CDU/CSU wurden einige Versatzstücke des Minderheitenvotums in die eigene Mehrheits-Darstellung übernommen, so daß nun auch elektronische Demokratie im Schlußbericht Erwähnung findet. Weitgehend unverändert tauchen Text und Empfehlungen im Sondervotum von Bündnis 90/Die Grünen auf, das im Anhang des Enquete-Schlußberichts dokumentiert wird. Dem haben sich auch Vertreter der SPD angeschlossen. Interessant ist in diesem Kontext, daß nach all dem hinhaltenden Taktieren in der Kommission das Nachdenken über elektronische Demokratie zum Ende hin doch eine Chance erhielt.

 

Zur Einschätzung

Mein Versuch, das Thema elektronische Demokratie in den Diskurs der Enquete-Kommission einzubringen, habe ich von Anbeginn nicht nur als inhaltliches Anliegen betrachtet, sondern auch als eine Art Probelauf, was das Prozedere in einer Kommission des Bundestages anbetrifft. Ich wollte wissen, inwieweit offene Verfahren im parlamentarischen Mikrobereich praktiziert werden. Meine skeptische Hypothese dabei war, daß durch informelle, in der Geschäftsordnung und in den Beschlüssen des Bundestages nicht gestützte Strukturen, ein hohes Maß an Hierarchisierung demokratischer Willensbildung entgegensteht. Ich fand das in der Mikro-Empirie eindrucksvoll bestätigt.

Was die internen Arbeitsabläufe der Kommission anbetrifft, so werden fast alle substantiellen Entscheidungen von einem Obleutegremium gefällt, das ausschließlich aus dafür designierten Abgeordneten besteht. Die Existenz dieses Gremiums wurde uns anfänglich nicht kommuniziert, der Zugang zu seinen Protokollen mußte mühsam eingefordert werden. Zu seinen internen Sitzungen ist immer das Sekretariat der Kommission präsent, es wird sorgfältig Protokoll geführt. Die Beobachtung ergab, daß hier fast alle zentralen Entscheidungen abschließend gefällt werden. Das gilt insbesondere für Entscheidungen, bei denen es um direkt umgesetzte Macht geht, also die Bestellung von Mitarbeitern und die Vergabe von Gutachtenaufträgen. Die Kommission ist nur zu Abstimmungen über ihre Zwischen- und Endberichte aufgerufen worden.

Wertet man diese mikro-politische Beobachtung aus, so zeichnet sich eine streng hierarchische Struktur ab, was auch erklärt, daß es einem einzelnen Parlamentarier in exponierter Position gelingen kann, einen ihm nicht genehmen Begriff - wie hier den der elektronischen Demokratie - konsequent aus der Arbeit der Kommission herauszuhalten. Angesichts der weitgehend informellen Strukturen geschieht dies, ohne eine Spur von schriftlich dokumentierten Entscheidungen und klar zuweisbaren Verantwortlichkeiten zu hinterlassen: Organisierte Verantwortungslosigkeit nennt man das. Im Prinzip wurde mir mündlich bekundet, daß der Schlüsselbegriff Anathema sei. Da ich dies Engagement - wie gesagt - als Projekt begriff, versuchte ich auf die mir angeratenen Spielregeln einzugehen, besprach mich mit dem Vorsitzenden, rief im Privathaus eines Abgeordneten an, kommunizierte mit zuständigen Vertretern im Sekretariat. Aber zu bewegen gab es nichts.

In dieser sicherlich subjektiv-peripheren Perspektive bleiben zwei zentrale Einsichten, wie ich sie zur parlamentarischen Praxis gewann:

- Im Alltag der ParlamentarierInnen haben interne Hierarchien eine große Bedeutung; wer im Obleutegremium sitzt, verfügt über die Ressourcen der Kommission, weil er unmittelbar über Finanzmittel und Personalstellen entscheidet - beides zentrale "Währungen" für Machterwerb.

- Bestandteil dieser Hierarchien ist, daß bestimmte ParlamentarierInnen über faktische Vetorechte verfügen, ihnen nicht genehme Abläufe stoppen können, ohne daß sie dafür "haftbar" zu machen sind; sie müssen dabei nicht einmal in Erscheinung treten.

Letztlich zeichnet sich in der Enquete-Kommission eine informelle Hierarchie ab, die alle Arbeitsgänge durchdrang. In abfallender Folge kann man Akteure wie folgt zuordnen: An der Spitze der oder die Vorsitzende mit dem Sekretariat (dessen Leitung traditionell mit der Partei der Vorsitzenden verbunden ist), dahinter die Stellvertretung und die Obleute der Parteien, die übrigen ParlamentarierInnen, am Ende die Sachverständigen. Zusätzlich muß zwischen großen und kleinen Parteien unterschieden werden. So sind die Prestige- und Einfluß-"Schlußlichter" sicherlich bei der PDS zu finden (deren VertreterInnen zudem nicht stimmberechtigt sind).

Alles in allem hinterläßt die Analyse des parlamentarischen Alltags den Eindruck, daß sich Elemente einer faktischen "Feudalisierung" eingeschlichen haben, daß jenseits der schriftlich fixierten Verfahrensregeln bei den Akteuren vor allem Strategien um Machterwerb und -erhalt im Vordergrund stehen. Diese erhalten regelrecht klientelistische Züge, wenn man bedenkt, daß bereits das Personal des Sekretariats mehr oder minder nach Parteinähe rekrutiert wurde und auch NutznießerInnen von Forschungsaufträgen in vielen Fällen mit einer der beiden großen Parteien verbandelt sind. Schließlich ist nicht zu unterschätzen, daß bis auf einige Anhörungen die Arbeit der Kommission nicht-öffentlich gestaltet war, also keine Zugänglichkeit für Dritte bestand. Selbst innerhalb der Kommission wurden Information über ablaufende Prozesse nur differenziert weitergegeben.

 

Elektronische Demokratie und gelebte Demokratie

Was das alles mit elektronischer Demokratie zu tun hat? Sicherlich ist der derzeitige parlamentarische Prozeß in Bonn über weite Strecken defizitär. So erscheint es symptomatisch, daß eine fundierte Debatte über elektronische Demokratie nicht geführt werden konnte, obwohl die Mehrzahl der Kommissions-Mitglieder dies wünschte. Es ist vielleicht leichtfertig, aus der Mikro-Perspektive auf das Ganze zu schließen, dennoch behaupte ich: Die gegenwärtige Verfaßtheit des Parlaments macht es schwer, dort über seine Reform in Richtung mehr Demokratie überhaupt nachzudenken. Diese Feststellung gilt unabhängig von allen technischen Optionen. In der Konsequenz bedeutet dies, daß ein Diskurs zur elektronischen Demokratie wesentlich in einen zur Reform und Weiterentwicklung unserer parlamentarischen Institutionen eingebunden sein muß.

Über weite Strecken ist diese Reform ohne Digitalisierung möglich. Hier soll das Beispiel Transparenz vorgetragen werden. Die Prozesse in Bonn sind u. a. deshalb in hohem Maße vermachtet, weil sie außerhalb der öffentlichen Beobachtung ablaufen können. Außer den Plenardebatten des Bundestages, die allein deshalb schon inszeniert sind, findet in der Hauptstadt der politische Alltag hinter verschlossenen Türen statt - wenn man von einer kleinen Zahl Anhörungen absieht. Häufig wurde für den bisherigen Zustand die bauliche Situation verantwortlich gemacht - es fehle in Sitzungsräumen der Platz für ZuhörerInnen. (Übrigens ein schönes Beispiel für die materiell-technische Seite der Demokratie.) Nun werden in Berlin neue Tagungsräume gebaut und - soweit man hört - werden dort ebenfalls keine Zuhörertribünen installiert. Die Einrichtung eines TV-Parlamentskanals nach US-Muster (bzw. anderer Staaten wie Kanada) in Deutschland würde schon daran scheitern, daß öffentliche Anlässe für Übertragungen fehlen. Er würde meist schwarz bleiben.

Eine lebendige Demokratie ist aber eng mit der Öffentlichkeit ihrer Prozesse verwoben. Fehlt sie, so muß Öffnung eingefordert werden. Auf dem jeweiligen Stand der Technik gibt es verschiedene Optionen: Öffentlichkeit mag als unmittelbare Zugänglichkeit für interessierte BürgerInnen geschaffen werden, durch kommentarlose TV-Übertragung der Verhandlungen (wie in den USA) oder beispielsweise Abfilmen und Übertragen per Internet inklusive Archivieren in Datenspeichern und jederzeitiger Abrufbarkeit. So besehen relativiert sich die Frage, welche Technik man zur Umsetzung demokratischer Gebote einsetzt. Es gibt immer mehrere Optionen. Aus den obigen Passagen zu Technik und Demokratie ist abzuleiten, daß es nicht um eine Neutechnisierung der Demokratie geht, sondern nur um neue Möglichkeiten angesichts neuer Techniken.

Der Charme der international geführten Debatte um elektronische Demokratie ist es vor allem, daß uralte Fragen nach der Verwirklichung von mehr Demokratie eine neue Aktualität gewinnen. Unsere PolitikerInnen haben es sich im Bonner Politiksystem bequem gemacht und sind ihrerseits kaum bereit, die oben beschriebene Struktur von Feudalismus und Klientelismus aufzugeben. Und wir BürgerInnen haben letztlich die PolitikerInnen, die wir verdienen. Eine Veränderung der verfestigten und verkrusteten Verhältnisse kann deshalb auch nur von außen angestoßen werden. Dafür ist jetzt ein guter Zeitpunkt, da parteiübergreifend in Bonn das Hohelied der neuen Techniken gesungen wird, welche eine (angebliche) Informationsgesellschaft entstehen lassen und den Standort stärken sollen. Unverkennbar können Visionen einer elektronischen Demokratie neues Interesse erwecken, vermögen sogar die von der Politik immer wieder geforderte Akzeptanz für die neuen Techniken verbessern.

Der Diskurs zur elektronischen Demokratie gibt bei uns nur Sinn, wenn es gelingt, an die internationale Debatte anzuknüpfen. Es muß betont werden, daß in einer verhängnisvollen deutschen Tradition Staat und Technik so verknüpft wurden, daß die Demokratie auf der Strecke blieb. Hier kann das Einklinken in eine in vielen Staaten geführte Debatte für mehr Realismus sorgen, uns helfen, wirklichkeitsferne Technikhoffnungen von praktisch umsetzbaren Verbesserungen zu trennen und letzteren auf die Sprünge zu helfen. Natürlich bleibt das Problem bestehen, daß das Thema der elektronischen Demokratie die demokratische Substanz unseres Parlamentarismus selbst ist.

Bei den von Feudalismus und Klientelismus Begünstigten wird es folglich immer Widerstände geben. Dennoch birgt elektronische Demokratie, verstanden als Vehikel für demokratische Reform, derzeit ein beachtliches Potential für eine überfällige Demokratisierung.