Meine zentrale These ist: Deutsche Außenpolitik nach 1989 muss eine
zunehmend integ-rierte Welt anstreben, in der fortbestehende Widersprüche
und Konflikte möglichst ge-waltfrei ausgetragen werden.
Die großen Herausforderungen nach dem Irakkonflikt sind vor allem:
Wie kann die sich erweiternde EU vertieft werden, um als Partner der
USA in einer erneuerten transatlantischen Gemeinschaft angemessenes
Gewicht zu entwickeln? Wie kann eine kluge Nachbarschaftspolitik der
EU zu diesem Gewicht beitragen? Was sind die richtigen Anteile von soft
und hard power in der außenpolitischen Rolle der EU?
Wie ist der "Westen" als politische Größe auf
seinen gemeinsamen normativen Grundlagen als Aktionseinheit zu festigen,
nachdem er nicht mehr einem entgegengesetzten Block, sondern diffusen
Gefährdungen und Bedrohungen gegenübersteht?
II.
Wie stärken wir die sich erweiternde EU?
Wir streben im Konvent einen qualitativen Fortschritt in der GASP an (qualifizierte
Mehrheitsentscheidungen, europäischer Außenminister, ihm zugeordneter
europäischer diplomatischer Dienst). Das Handeln von Solana auf dem
Balkan und im nahen Osten zeigt, dass eine europäische Außenpolitik
möglich ist. Ein europäischer Außenminister mit einem eigenen
Apparat wird eine wichtige Weiterentwicklung sein.
Technisch institutionelle Neuerungen alleine werden jedoch noch keinen
Durchbruch im Sinne eines gemeinsamen europäischen politischen Willens
erbringen. Notwendig ist ein Mentalitätswandel der politischen Klasse
und die Entwicklung eines "EU-first" - Reflexes gegenüber
beschränkt nationalen Reaktionsweisen bei politischen Handlungsträgern.
Instrumental dafür ist eine engere Verknüpfung der außenpolitischen
"Communities". Notwendig ist die Schaffung einer europäischen
Öffentlichkeit in außen- und sicherheitspolitischen Fragen.
Entscheidend ist eine Grundsatzdebatte über die Rolle, die die erweiterte
EU in der Welt spielen und wie viel Verantwortung sie übernehmen will.
Klar ist, dass die EU nicht beides haben kann: eine starke europäische
Außen- und Sicherheitspolitik bei gleichzeitigem Fortbestehen voller
Handlungsfreiheit jedes einzelnen Mitgliedstaates. Möglich ist aber
die Schaffung von europäischen Strukturen, die die Herausbildung eines
gemeinsamen außenpolitischen Willens fördern und auf sie hin
führen, ggf. zunächst auf thematisch bzw. geographisch begrenzter
Grundlage.
Die Strategie- und Interessendiskussion der EU ist vorrangig. Diese müsste
in eine neue "Sicherheitsdoktrin" der EU münden. Sie setzt
eine gemeinsame Analyse der Herausforderungen und Risiken der neuen Weltlage
voraus und sollte handlungsleitende Selbstverpflichtungen einschließen.
Sie sollte auch das Verhältnis der Union und ihrer Mitgliedstaaten
zu anderen wichtigen Faktoren, insbesondere die transatlantischen Beziehungen
einschließen. Sie könnte so zu einem Rahmen für kohärentes
außenpolitisches Handeln der Union werden. Der EU-Außenminister
mit Initiativrecht sollte eine Schlüsselstellung bei der Erarbeitung
und Implementierung der Strategien bekommen. Die zukünftigen Mitgliedstaaten
sollten von vorneherein einbezogen werden.
Das weltpolitische Potential der EU liegt klar in ihrer geographischen
Lage. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen und politischen Attraktionskraft
kann die EU in entscheidenden Teilen der Welt (Osteuropa, Mittelmeerregion,
Mittlerer Osten, Kaukasus, Zentralasien) als Nachbar und in Formen von assoziativer
Nachbarschaftspolitik prägend wirken.
Darüber hinaus muss die EU aber auch die gemeinsame Verteidigung im
Verfassungsvertrag verankern. Anspruch der EU muss Handlungsfähigkeit
über das gesamte Einsatz-spektrum sein, von friedenserhaltenden Maßnahmen
bis hin zu Kampfeinsätzen. Langfristig sollten wir die Gründung
einer europäischen Kern-Armee anstreben, die im Bereich Führung
und Ausrüstung das Prinzip der Arbeitsteilung anwendet.
III.
Wie festigen wir den "politischen Westen", welche NATO brauchen
wir?
Europa und die USA können die neuen globalen Herausforderungen und
Bedrohungen nur gemeinsam bewältigen. Für die großen Probleme
gibt es keine Lösung ohne (oder gar gegen) die Amerikaner. Für
die USA gilt das "paradox of American power" (Joseph Nye). Trotz
unangefochtener Machtposition brauchen sie Hilfe und Respekt anderer Nationen.
Leitbild der neuen transatlantischen Beziehungen muss deshalb der Begriff
der "kooperativen Gegenmacht" sein. Da uns mit den USA nach wie
vor eine große Gemeinsamkeit an Werten und Interessen verbindet, aber
auch wegen der tatsächlichen Kräfteverhältnisse, gibt es
keinen anderen gangbaren, geschweige denn attraktiven Weg.
Will die erweiterte EU globale Verantwortung übernehmen und ihre Interessen
mit Aussicht auf Erfolg vertreten, muss sie das spezifische Gewicht eines
"unerlässlichen Partners" der USA entwickeln. Prioritär
dafür sind Festigung und Konsolidierung im Innern sowie die Herausbildung
des gemeinsamen politischen Willens, als EU eine internationale Rolle zu
spielen. Was in der Außenhandelspolitik längst gilt (die EU als
gleichberechtig-ter, weil starker Partner), muss als Ziel auch für
die europäische Außen- und Sicherheitspolitik gelten.
Europa hat keinen Anlass, eine den USA vergleichbare Hochrüstung anzustreben.
Mit einer an den neuen Aufgaben ausgerichteten Restrukturierung der Streitkräfte,
maßvollen Steigerung der Verteidigungshaushalte, sowie einer besseren
Abstimmung/Koordinierung kann die EU die notwendigen militärischen
Fähigkeiten entwickeln.
Die europäische Schwäche darf dennoch nicht als "naturgegebenes"
Faktum hingenommen werden. Die amerikanische Neigung, die NATO als "Werkzeugkasten",
zumal im Rahmen von "Koalitionen der Willigen" zu nutzen, stellt
derzeit ein, wenn nicht das zent-rale Problem in den transatlantischen Beziehungen
dar. Auch wenn es keinen Weg zurück in die "gute alte NATO"
der Zeit vor 1989 geben kann: "Transatlantizismus à la carte"
ist aus europäischer Sicht eine gefährliche Entwicklung, die die
Pfeiler einer multilateralen Weltordnung untergräbt.
Ziel europäischer Politik muss mehr denn je die "bipolare" NATO sein. Unabhängig von der jeweiligen US-Administration bleibt ein prosperierendes, stabiles und handlungsfähiges Europa ein Wert an sich für die USA - weit über rein militärisch strategische Fragen hinaus. Und unabhängig ihrer derzeitigen Meinungsunterschiede haben "altes" und "neues" Europa ("the emerging new West") ein gemeinsames Interesse daran, dass der unipolare amerikanische Weltordnungsentwurf nicht zu einem Totalschaden für die internationa-len Beziehungen, das UN-System, die NATO und die europäische Integration führt.
IV.
Zusammengefasst: Deutsche Außenpolitik nach 1989 - und insbesondere
nach dem Irak-konflikt - muss das Ziel einer abgestuften, pluralen Integration
als Grundmuster einer globalen Ordnungspolitik verfolgen.
Deutsche Außenpolitik muss Politik für und innerhalb der sich
erweiternden EU sein. Dies bedeutet zum einen, entschlossen die gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik zu einer glaubhaften, integrierten gemeinsamen
Politik fortzuentwickeln.
Deutschland und die sich erweiternde Union müssen zum anderen den
"Westen" als politische Größe auf seinen normativen
Grundlagen rekonstruieren. Bislang waren Aufbau der NATO und europäische
Integration immer komplementäre Prozesse. Nach 1989 ist diese Komplementarität
nicht mehr automatisch gegeben. Angesichts der Differenzen in der transatlantischen
Gemeinschaft stehen Deutschland und die erweiterte EU vor der Herausforderung,
ein "atlantisches" Europa und ein "kontinentales" Europa
miteinander in Einklang zu bringen.
Den politischen Westen als Aktionseinheit wiederherzustellen bedeutet naturgemäß auch, dass Deutschland und die sich erweiternde EU die Vereinten Nationen als normativen Ordnungs- und globalen Handlungsrahmen stärken. Unverzichtbar ist ebenfalls, die weltwirtschaftliche Ordnung so weiterzuentwickeln, dass sie einen zunehmend gerechten und attraktiven Rahmen für die internationalen Waren- und Kapitalströme bildet. Nur in dieser umfassenden Weise werden sich letztlich Antworten auf die Gefährdungen durch kollabierende Staaten, internationalen Terrorismus sowie neue und alte Diktaturen finden lassen, die in Verbindung mit der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu einer globalen Bedrohung werden.
Martin Kremer ist Mitglied des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Berlin