Islamischer Religionsunterricht im europäischen Vergleich

Von Irka Mohr
 
 

Es gibt in vielen Ländern Europas einen islamischen Religionsunterricht oder zumindest einen Unterricht über den Islam. Ich werde Ihnen heute abend vier dieser Länder vorstellen, nämlich Belgien, Österreich, Großbritannien und die Niederlande. Ich habe die vier genannten Länder ausgewählt, weil sie erstens neben Deutschland und Frankreich die größte muslimische Minderheit haben und weil zweitens in ihrem öffentlichenSchulwesen ein Unterricht über Islam angeboten wird. Auf die Situation in Deutschland werde ich in meinem Vortrag nicht eingehen. Stattdessen möchte ich zum Schluß des Papiers einige Fragen für die anschließende Diskussion formulieren, ob und wie die Erfahrungen unserer Nachbarn auf den deutschen Kontext übertragen werden können. Immerhin wird auf EU-Ebene inzwischen auf eine gemeinsame Einwanderungs- und Integrationspolitik der Mitgliedsländer hingearbeitet.

In meinem Vortrag möchte ich zweierlei darstellen: erstens, wie Prozesse der Institutionalisierung von islamischem Religionsunterricht bei unseren europäischen Nachbarn verlaufen; und zweitens, welche Formen des Unterrichts über den Islam diese Prozesse hervorbringen. Mein Anliegen ist es, Sie für die Dauer dieses Vortrags von Ihren unmittelbaren Zusammenhängen und Problemen vor Ort zu lösen, um Sie an den Beispielen der Nachbarländer zu inspirieren und auf neue Ideen und Fragen zu stoßen.

Bevor ich auf die ausgewählten Länder einzeln eingehe, möchte ich sie typisieren. Dabei gehe ich von der Annahme aus, daß sich die Institutionalisierung des islamischen Religionsunterrichts abhängig von den spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen jeden Staates vollzieht. D.h. alle gesellschaftlichen Gruppen - auch Minderheiten - bilden ihre Wünsche und Bedürfnisse nach den Möglichkeiten des bestehenden Rechtssystems und seinen Interpretationsspielräumen aus. Das Rechtssystem wiederum basiert auf der jeweiligen spezifisch säkularen, also nicht-religiösen, weltlichen Ausprägung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften. Die Interpretationsspielräume der Rechtssysteme verdienen unsere Aufmerksamkeit. Eine aktive Integrationspolitik setzt voraus, die eigenen Interpretationsspielräume suchen und füllen zu wollen. Die jeweiligen Minderheitsgesellschaften suchen im ureigenen Interesse nach solchen Spielräumen. Ihr Ziel ist es, die gleichen Rechte wie die etablierten Religionsgemeinschaften in einem Rechtssystem zu erwerben, das in einem anfänglich weitgehend homogenen, christlichen Kulturraum die neu hinzukommenden Minderheiten nicht mitbedacht hatte.

Ich unterscheide unter den Beispielländern zwei Typen, die sich hinsichtlich der Rahmenbedingungen für den islamischen Religionsunterricht unterscheiden. Diese Unterscheidung wiederum kann zwei verschiedene Wege erklären, ein islamisches Bildungsangebot an Grund- und weiterführenden Schulen zu etablieren.

A) Typ 1 bilden Österreich und Belgien, deren Verfassungen die formale Anerkennung von Religionsgemeinschaften vorsehen. Diese Anerkennung ist wiederum Voraussetzung für den konfessionsgebundenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Beide Staaten haben schon Ende der 70er Jahre diesen Schritt der Anerkennung des Islam vollzogen. Sie verfügen über jahrelange Erfahrung mit islamischem Religionsunterricht. Die muslimische Minderheit hat in beiden Ländern die Möglichkeit der Einrichtung von islamischem Religionsunterricht wahrgenommen, den Unterricht professionalisiert und ihn zunehmend erweitert. Der Religionsunterricht scheint als Mittel für die religiöse Basiserziehung der Kinder akzeptiert zu werden, so daß islamische Konfessionsschulen bisher keine Rolle spielen.

B) Typ 2 bilden die Niederlande und Großbritannien, deren Verfassungen die formale Anerkennung von Religionsgemeinschaften nicht vorsehen und deren öffentliches Bildungsangebot keinen konfessionsgebundenen Religionsunterricht beinhaltet. Stattdessen bietet die öffentliche Schule ein Pflichtfach für alle SchülerInnen: "geestelijke stromingen" beziehungsweise "Religious Education". Beide Staaten haben außerdem eine Revision des gesamten Curriculums durchgeführt. Ziel war dabei, den kulturellen Pluralismus der eigenen Gesellschaft in der Schule stärker zu vermitteln und die nationale Zugehörigkeit für Minderheitenkulturen zu öffnen. Die Betonung in der Schulpolitik beider Länder liegt auf der interkulturellen und nicht auf der interreligiösen Pädagogik. Sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden reicht vielen muslimischen Eltern die Vermittlung religiöser oder religionskundlicher Inhalte an den öffentlichen Schulen nicht aus. Deshalb wendet sich die Aufmerksamkeit einiger Eltern auf die Gründung von Privatschulen: in den Niederlanden gibt es mittlerweile 30, in Großbritannien sogar 80 islamische Privatschulen.

Im Anschluß an die Rahmenbedingungen stelle ich kurz die unterschiedlichen Formen von Unterricht über den Islam dar. Meine Überlegungen richten sich dabei weniger auf den pädagogisch-didaktischen Rahmen, sondern vielmehr auf den Begriff von Islam und Muslimen, der in der Konzeption des Unterrichts durchscheint. Denn die dem jeweiligen Unterrichtsmodell zugrundeliegende Interpretation des Islam definiert das Verhältnis der muslimischen Minderheit zu ihren eigenen internen Minderheiten. Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang an die verschiedenen Unterrichtsmodelle zu stellen: Werden islamische Strömungen und Minderheiten berücksichtigt oder wird ein normativ verstandener sunnitischer Islam vermittelt? Wird der Universalismus des Islam oder seine kulturspezifische Ausprägung betont? Ganz einfach gesagt geht es darum, an welche Kinder von welchen muslimischen Eltern sich der Unterricht wendet, d.h. wer dazugehört zur "Umma" und wer nicht. Die Frage, wer Muslim ist und wer darüber die Definitionsgewalt besitzt, entscheidet darüber, ob Unterricht über den Islam gesamtislamisch, ethnisch, essentialistisch oder multireligiös konzipiert ist. Das Verhältnis 'des' Islam zu seinen Minderheiten interessiert mich deshalb, weil es das Verhältnis der Muslime zu den Nichtmuslimen indirekt mitbestimmt.
 
 

Kommen wir nun zu den Länderskizzen:

Belgien:

Religions- oder Ethikunterricht ist in den öffentlichen Schulen Belgiens obligatorisch, vergleichbar dem in Berlin vorgeschlagenen Modell eines Wahlpflichtbereichs. Der Religionsunterricht ist konfessionsgebunden, d.h. für Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime separat zu erteilen. Da alle Muslime nach dem belgischen Anerkennungsgesetz eine Konfession bilden, ist als logische Folge für alle islamischen Strömungen auch nur ein Religionsunterricht vorgesehen. Überträgt man jedoch den Begriff der Konfession von seinem christlichen Entstehungszusammenhang auf den Islam, so könnte man Sunniten und Shiiten als zwei verschiedene Konfessionsgruppen bezeichnen und einen islamischen Religionsunterricht, der sunnitische, shiitische, alewitische sowie alle möglichen Ordenstraditionen einbezieht, durchaus als multikonfessionell verstehen. D.h. der islamische Religionsunterricht an belgischen Schulen ist zwar qua Gesetz konfessionell, de facto kann man ihn jedoch genausogut als multikonfessionell islamisch bezeichnen.

Der islamische Religionsunterricht in Belgien ist seit seiner schrittweisen Einführung an öffentlichen Schulen 1975/76 provisorisch geregelt worden. Denn der Islam ist zwar seit 1974 qua Gesetz anerkannt, die Muslime konnten jedoch de facto aufgrund einer fehlenden repräsentativen Vertretung ihre Rechte nicht vollständig in Anspruch nehmen. In belgischen Schulen wird deshalb seit mehr als zwanzig Jahren Unterricht über den Islam erteilt, ohne daß dieser einem einheitlichen Lehrplan folgt. Auf das Verständnis von Islam, das dem Unterricht zugrundeliegt, kann ich aufgrund dessen hier nur von seinen strukturellen Rahmenbedingungen schließen:

Bis 1989 koordinierte das Islamische Kulturzentrum in Brüssel den Islamunterricht. Es wird von der Islamischen Weltliga und Botschaftern muslimischer Staaten unter Vorsitz des saudiarabischen Botschafters geführt. Bereits vor der Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft war das Kulturzentrum der bevorzugte Ansprechpartner des belgischen Staates. Um seinen Anspruch auf die Vertretung aller Muslime in Belgien zu legitimieren, formulierte das Zentrum ein essentialistisches Verständnis von Islam. Das bedeutet, daß die individuellen und moralisch-ethischen, also universalen Dimensionen des Islam betont und die kulturell und ethnisch geprägten Inhalte reduziert oder ausgelassen wurden. De facto fühlten sich jedoch nur die nichttürkischen und an ihren Herkunftsländern orientierten Muslime durch das Zentrum vertreten.

Der islamische Religionsunterricht berücksichtigte in dieser Phase vor allem die sunnitische Richtung und reduzierte die innere Vielfalt des Islam auf eine ethnische, vor allem zwischen türkischen und maghrebinischen Muslimen differenzierende Unterscheidung. Damit bildete der Unterricht die Konfliktlinien in der muslimischen Minderheit ab. Bis 1986 fand der Unterricht für die türkischstämmigen Kinder auf türkisch und überwiegend mithilfe der offiziellen türkischen Schulbücher statt, in denen heterodoxe islamische Strömungen wie die Alewiten oder auch Orden wie die Süleymancilar nicht berücksichtigt wurden. Die Verknüpfung islamischer Inhalte mit dem türkischen Nationalismus in den Schulbüchern aus der Türkei verstärkte die ethnische Konzeption dieses Religionsunterrichts. Er erinnert an die islamische Unterweisung im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts, so wie sie in vielen deutschen Bundesländern organisiert ist. Der Religionsunterricht für die arabischsprachigen Kinder war nach dem gleichen Muster organisiert.

Mitte der 80er Jahre wurde dann vorgeschrieben, daß der Unterricht in einer der beiden Landessprachen französisch oder flämisch abzuhalten sei. Das führte zu einer Aufhebung der ethnischen Konzeption des islamischen Religionsunterrichts. Es gab jedoch nach wie vor keinen einheitlichen Lehrplan und die LehrerInnen halfen sich nun mit Kopien aus niederländischen und französischen Lehrbüchern. Den Aussagen der LehrerInnen zufolge legten sie die Unterrichtsinhalte entsprechend ihrem eigenen Verständnis vom Islam fest, ohne die lokalen Moscheegemeinden zu Rate ziehen zu müssen. Heute nehmen mehr als die Hälfte der muslimischen Kinder und Jugendlichen am islamischen Religionsunterricht der öffentlichen Schulen teil.

Erst Ende 1998 wurde die seit 1974 gesetzlich geforderte repräsentative Vertretung der belgischen Muslime gewählt. In ihr sind die Hauptethnien Türken, Marokkaner und andere proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil und auch Minderheiten wie die Alewiten vertreten. Mit dieser Quotenregelung sollen die jahrzehntelangen Streitigkeiten um die legitime Vertretung der Muslime befriedet und eine möglichst breite Mitwirkung islamischer Strömungen erreicht werden. Die "Exekutif des Musulmans de Belgique" arbeitet im Moment an einem einheitlichen Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht, so daß dieser hier leider noch nicht vorgestellt werden kann.1
 
 

Österreich:

Auch Österreich hat den Islam als Religionsgemeinschaft anerkannt. Obwohl die Anerkennung durch das sogenannte Islamgesetz von 1912 formal erfolgt ist, wird dieses Recht faktisch erst seit 1979 von der "Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich" wahrgenommen. Der staatlich finanzierte Religionsunterricht in öffentlichen Schulen ist eine Folge dieser Anerkennung. Ausschließlich die Islamische Glaubensgemeinschaft darf islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen durchführen - eine den Kultusbehörden der deutschen Bundesländer sicherlich erstrebenswert erscheinende Situation. Der Unterricht wird seit 1982 angeboten. Heute nehmen knapp die Hälfte der muslimischen Kinder und Jugendlichen am Unterricht teil. Die Lehrpläne werden von der Religionsgemeinschaft erarbeitet und von den Behörden bestätigt. Während also die inhaltliche Ausgestaltung der Kontrolle der Religionsgemeinschaften vorbehalten bleibt, wird der organisatorische und didaktische Rahmen des Religionsunterrichts vom Staat kontrolliert.

Der islamische Lehrplan wird zentral erarbeitet und hat einen normativ-bekennenden Charakter. Im Widerspruch zu der Vielfalt islamischer Strömungen, die von der Religionsgemeinschaft vertreten werden, ist der Unterricht ausschließlich sunnitisch, also konfessionell konzipiert. Entsprechend nehmen kaum schiitische und kein einziges alewitisches Kind am Religionsunterricht teil. Ein zweites Merkmal des Unterrichts ist, daß er nicht ethnisch-nationalistisch gefärbt ist, obwohl die Mehrheit der SchülerInnen türkischer Herkunft ist. D.h. einerseits ist der Religionsunterricht übernational, also unter ethnischer Perspektive gesamtislamisch orientiert, mit dem Anspruch, ihn für alle muslimischen Kinder zu öffnen, und andererseits ist er unter konfessioneller Perspektive ausschließlich sunnitisch ausgerichtet. Die Machtverhältnisse im Vorstand der österreichisch-islamischen Glaubensgemeinschaft, der ethnisch heterogen und konfessionell homogen ist, schlagen sich also im Curriculum buchstäblich nieder. Sowohl die Ethnizität als auch die verschiedenen religiösen Traditionen der muslimischen Minderheitengruppen werden also von der Glaubensgemeinschaft auf unterschiedliche Weise unterdrückt, um so eine einheitliche Umma österreichischer Muslime zu schaffen, nach dem Motto: Vielfalt unterdrücken um Einheit zu verwirklichen.

These: In allen hier vorgestellten Ländern sieht sich die muslimische Minderheit mit der Forderung der Mehrheit konfrontiert, sich unter einem Dach zu einen und den gewünschten Ansprechpartner für die Öffentlichkeit bereitzustellen. Dieser Zwang zur Vereinheitlichung könnte mit zu der sich im Religionsunterricht niederschlagenden Dominanz der Sunna beziehungsweise Unterdrückung der inneren Vielfalt beigetragen haben.

Wir kommen nun zum zweiten Typ, Großbritannien und die Niederlande, die beide keinen konfessionellen Religionsunterricht als Pflicht- oder Wahlpflichtfach vorsehen, sondern ein für alle SchülerInnen obligatorisches gemeinsames Unterrichtsangebot zu Religion machen.
 
 

Großbritannien:

Das britische Rechtssystem sieht die Anerkennung religiöser Gemeinschaften nicht vor. Neben der Church of England als nationale Kirche existiert jede der etablierten Religionsgemeinschaften mit ihren eigenen, historisch erkämpften rechtlichen Privilegien. Die Rechte der Muslime hingegen werden bisher im Rahmen politischer Entscheidungen vor allem auf lokaler Ebene verhandelt. In britischen öffentlichen Schulen gibt es keinen konfessionellen Religionsunterricht, sondern die für alle SchülerInnen verbindliche Religious Education (RE). Der Unterricht ist nicht konfessionell, sondern multireligiös konzipiert. Es wird von "education" statt von "instruction" (Unterweisung) gesprochen, weil der Unterricht nicht in Religionen einführt, also keinen Verkündigungs- und Unterweisungscharakter hat, sondern über die in Großbritannien lebendigen Religionen mit besonderer Betonung des Christentums religionskundlich informieren soll. Ziel ist, in jungen Menschen Wissen und Verständnis für religiöse Überzeugungen und Praktiken zu entwickeln. Lernzielkategorien sind "Lernen über Religionen" und "Lernen von Religionen". Letztere steht in Zusammenhang mit dem allgemeinen Bildungsauftrag der Schule, die moralische und spirituelle Entwicklung des Kindes zu fördern.

Das britische (hier: England und Wales) Schulsystem regelt die Religious Education dezentral. Auf diese Weise bleibt der Unterricht fachlich und personell eng mit den lokalen Gemeinden verbunden, anders als in Belgien und Österreich, wo er zentral gesteuert wird. Hinter dieser Form, die lokalen religiösen Traditionen in die Schule einzubinden, steht der Ansatz, Weltreligionen in ihrer konkreten Gestalt als Nachbarschaftsreligionen zu unterrichten. Der Hamburger interreligiöse Unterricht orientiert sich ebenfalls an dieser Idee. Da die Lehrpläne für die Religious Education von lokalen Kommissionen erarbeitet werden, sind sie dementsprechend verschieden und können hier unmöglich alle gewürdigt werden. Die staatliche Institution zur Curriculumentwicklung (SCAA) hat jedoch 1994 zwei Modelllehrpläne für die Religious Education veröffentlicht, die einen großen Einfluß auf die lokal entwickelten Lehrpläne haben.

In den Modellen fällt zweierlei auf: erstens herrscht ein großes Ungleichgewicht zwischen der christlichen und den anderen sechs zu behandelnden Religionen, die im Verhältnis vier zu eins unterrichtet werden sollen. Die meisten lokalen Lehrpläne überlassen zwar den Schulen die Entscheidung darüber, wieviele und welche Religionen behandelt werden, um flexibel auf die im Klassenraum repräsentierten Religionen eingehen zu können. Die Vorgabe, Christentum und andere Religionen im Verhältnis vier zu eins zu behandeln, fällt so vielleicht in der Praxis nicht ins Gewicht. Aber bei einer durchschnittlichen Gesamtanzahl von 45 Stunden pro Jahr bleibt die Religious Education auch bei einer proportionalen Berücksichtigung des Islam bei den absoluten Grundkenntnissen stehen. Deshalb sehen viele Eltern die Vermittlung religiösen Basiswissens im Rahmen der Religious Education nicht gewährleistet.

Darüberhinaus beschränken sich die britischen Modelllehrpläne in der Darstellung des Islam auf die Sunna und thematisieren somit die Pluralität der islamischen Strömungen nicht. Dies steht in Widerspruch zu dem expliziten Ziel des Faches, die Vielfalt der Religionen in Großbritannien sowie die Binnendifferenzierungen einzelner Religionen zu vermitteln um Stereotypisierung und Vorurteilsbildung zu vermeiden.
 
 

Niederlande:

Es gibt in den Niederlanden weder eine nationale Kirche wie in Großbritannien noch die Möglichkeit einer formalen Anerkennung der Religionsgemeinschaften wie in Deutschland oder Österreich. Die niederländische Gesellschaft ist in einer parallelen Anordnung von Gruppen organisiert. Man kann deshalb sagen, daß die Gruppen Säulen darstellen, die das gesamte gesellschaftliche Gefüge tragen. Das Säulensystem ist Anfang des Jahrhunderts entlang der konfessionellen Zugehörigkeiten entstanden, um den parallel organisierten Teilgesellschaften den Zugang zu öffentlichen Geldern für den Aufbau einer eigenen sozialen und politischen Infrastruktur zu garantieren. Das Säulensystem ist also der traditionelle Weg der Integration in die niederländische Gesellschaft und ermöglicht eine de facto Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Die Schaffung einer neuen 6. Säule für den Islam ist von den niederländischen Muslimen bisher abgelehnt worden, da sie eine Homogenität der muslimischen Gemeinschaften voraussetze, die nicht vorhanden sei. Die Anerkennung der Rechte der muslimischen Minderheit findet deshalb wie in Großbritannien auf der Ebene lokaler politischer Entscheidungen statt.

Eine staatliche Initiative im Bereich des Religionsunterrichts ist in den Niederlanden aufgrund der strikten Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ausgeschlossen. Stattdessen sieht der Fächerkanon für die Grundschule einen Unterricht in geestelijke stromingen (spirituelle Strömungen) als Pflichtfach vor. Es umfaßt Religionskunde, Religionsgeschichte und Ethik und ist insofern vergleichbar mit dem brandenburgischen "Lebensgestaltung-Ethik-Religion" (LER).

Zusätzlich zu den "Spirituellen Strömungen" kann fakultativ ein konfessionsgebundener Religionsunterricht eingerichtet werden. Seine Durchführung ist unmittelbar von dem Grad der Aktivität und Vitalität der religiösen Gemeinden vor Ort abhängig. Die Praxis erinnert inso-fern an Großbritannien, als der lokal gelebte Islam in den Schulunterricht einfließt. Die Schule muß die Räumlichkeiten und die religiöse Gemeinschaft vor Ort den Lehrer stellen. Der Lehrer ist meistens ein Imam, der seinen Unterricht - analog zum christlichen Religionsunterricht der 60er Jahre "Kirche in der Schule" - als "Moschee in der Schule" mit Verkündigungscharakter anbietet. Die lokalen Behörden können sich bereiterklären, diese Lehrer zu finanzieren, sind dazu jedoch nicht verpflichtet. Das gibt den Kommunen die Möglichkeit, zusätzliche Auflagen zu fordern, z.B. daß der Unterricht auf Niederländisch stattfinden muß. Wo dies nicht gefordert wird, werden die muslimischen SchülerInnen separat in türkisch- und arabischsprachigen Gruppen von einem Imam oder engagierten Elternteil betreut.

Die Kontrolle über die Lehrpläne liegt bei den dominanten Moscheevereinen vor Ort, weil die Schule anders als bei der britischen Religious Education nicht in die Gestaltung des Lehrplanes eingebunden ist. Ergänzender islamischer Religionsunterricht in der Schule ist insgesamt Mangelware, denn erstens sind die Kommunen selten bereit, die LehrerInnen für den islamischen Religionsunterricht zu finanzieren, und zweitens werden knapp zwei Drittel aller Grundschulen von den christlichen Kirchen getragen und bieten in der Regel nur ihrer eigenen Klientel Religionsunterricht an.

Islamische Privatschulen in Großbritannien und den Niederlanden: Charakteristisch für den zweiten Typ, Großbritannien und die Niederlande, ist die wachsende Anzahl islamischer Privatschulen. Dies hat natürlich vielgestaltige Gründe und hängt nicht zuletzt auch mit dem als unzureichend betrachteten religiösen Lehrangebot an öffentlichen Schulen zusammen. Seitdem in Großbritannien das neue Erziehungsgesetz von 1988 die Religious Education und die alltägliche Andacht an öffentlichen Schulen weiterhin als in erster Linie christlich festgeschrieben hat, ist ihre Akzeptanz bei einem Segment der muslimischen Eltern gesunken. Analog zu dem relativ großen Privatschulsektor - immerhin 8% aller SchülerInnen besuchen eine Schule, die einen privaten religiösen oder wohltätigen Träger hat - ist es zu einer Welle von islamischen Privatschulgründungen gekommen. Die Zahl der Schulen ist von 15 Anfang der 90er Jahre auf 80 Schulen Ende der 90er Jahre gewachsen. Die Privatschulen werden von lokalen Moscheevereinen getragen. Sie entstehen in Gegenden, wo der muslimische Bevölkerungsanteil hoch und die Plätze in Mädchenschulen gering sind.

Der Wunsch vieler muslimischer Eltern, besonders für Mädchen separate Schulen zu gründen, ist ein britischer Sonderfall und hängt damit zusammen, daß in England lange die getrennte Beschulung von Mädchen und Jungen üblich war und bis heute noch nicht völlig durch die Koedukation ersetzt worden ist: ein weiteres Beispiel für die These, daß Minderheiten ihre Bedürfnisse entlang der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausbilden. Unter den 30 islamischen Schulen in den Niederlanden ist bezeichnenderweise keine einzige reine Mädchen- oder Jungenschule. Neben der getrenntgeschlechtlichen Erziehung an speziellen Privatschulen für Mädchen werden als Motive für die Gründung der Privatschulen angegeben: erstens, eine islamisch fundierte Erziehung zu garantieren, und zweitens, das Ausbildungsniveau der muslimischen Kinder zu verbessern.

In den Niederlanden werden alle Privatschulen zu 100% staatlich finanziert - anders als in England, wo bisher von den 80 Schulen nur 2 anerkannt und teilfinanziert werden. In den Niederlanden gibt es knapp dreißig anerkannte islamische Privatschulen, die 4% der muslimischen Kinder und Jugendlichen unterrichten. Ein Teil der Basisschulen will in eine islamische Lebensweise, einen umfassenden way of life einführen, der sich auch im Ethos der Schule niederschlägt. Andere Privatschulen sind eher Schulen für Muslime als islamische Schulen, die Migrantenkinder durch besondere Förderung und stärkere Einbeziehung der Eltern in die Schularbeit zu besseren Schulabschlüssen führen wollen. Bemerkenswert ist, daß die Privatschulen sich entweder durch eine stark ethnische Zuordnung zum marokkanischen oder türkischen Islam auszeichnen, oder aber sich ethnisch unabhängig definieren und einen übernationalen, von lokalen Traditionen unabhängigen oder auf die politische und gesellschaftliche Situation in den Niederlanden bezogenen Islam vermitteln wollen.

In den Niederlanden und in Großbritannien hat der sprunghafte Anstieg der islamischen Privatschulen zu einer allgemeinen Debatte über die Einschränkung des Privatschulsystems bzw. die Neuordnung des Schulwesens geführt. Beispielsweise hat in den Niederlanden eine Schulgesetzänderung aus dem Jahre 1992 die Gründung von Privatschulen erschwert, wodurch die Anzahl islamischer Privatschulen nur noch langsam wächst. In Deutschland spielt die muslimische Minderheit eine ähnliche katalytische Rolle. Als 1998 durch die Anerkennung des Dachverbands Islamische Föderation als Religionsgemeinschaft in Berlin zum ersten Mal ein islamischer Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen als möglich erschien, führte dies zu einer grundsätzlichen öffentlichen Debatte über die Rolle von Religion in der Schule.

Ich möchte den Vortrag mit einigen Fragen beenden, die sich mit der Einführung von islamischem Religionsunterricht an deutschen Schulen beschäftigen.

1. Die Beispiele von Belgien und Österreich zeigen, daß der immer wieder beschworene muslimische Ansprechpartner kein Garant für einen nicht-normativen, kritischen Religionsunterricht ist, der mit den allgemeinen Bildungszielen der deutschen Schulen harmoniert. Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich ist zwar ein Ansprechpartner des Staates, seine sunnitische Mehrheit unterdrückt jedoch die innere Vielfalt des Islam und seine kulturspezifischen Ausprägungen und setzt eine normative Vorstellung von Islam fest. Belgien kann man als Gegenstück dazu lesen. Dort ist es nur aufgrund der massiven Intervention des Staates zu einer gewählten Repräsentanz der Muslime gekommen, in der die Sitze nach Quoten vergeben wurden, um die Minderheiten zu schützen. Der Staat hat hier sogar verhindert, daß Milli Görü? Mitglieder gewählt wurden. Wie kann die Frage nach dem Träger eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland gelöst werden? Können wir aus den Erfahrungen der Nachbarländer lernen? Welchen Interpretationsspielraum lassen die rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland?

2. Wie kann sich in islamischen Organisationen in Deutschland eine Expertise für den Religionsunterricht ausbilden? Existieren bundesweit arbeitende Expertenorganisationen, die sich den Bereichen Erziehung/Bildung widmen? In den Niederlanden beispielsweise entstehen interethnisch arbeitende und zusammengesetzte islamische Organisationen entlang von Sachthemen, z.B. die landesweit arbeitende Frauenorganisation, die Stiftung zur Förderung von Integration oder die Dachorganisation der islamischen Privatschulen.

3. Muß der islamische Religionsunterricht pädagogisch-didaktisch an die allgemeine Schulpädagogik anschließen und mit den Erziehungszielen der öffentlichen Schule übereinstimmen? In welchen Grenzen kann sich eine islamische Religionspädagogik entwickeln?

4. Liegen Studien über die Zielgruppe - also die muslimischen Kinder und Jugendlichen und ihre Religiosität - vor, von denen aus man den islamischen Religionsunterricht pädagogisch-didaktisch begründen kann? Es wird immer wieder argumentiert, a) die muslimischen Kinder müßten erst einmal Basiswissen erwerben, von einer gelebten Religion seien sie weit entfernt; versus b) die muslimischen Kinder brauchten einen verkündenden Unterricht, da sie noch nicht so wie die "säkularisierten" nicht-muslimischen Kinder von der Religion entfernt seien.