Wie weit reicht sinnliche Wahrnehmung?

Probleme sinnlicher Kontrollierbarkeit globaler Umweltveränderungen

von Fritz Reusswig

 

1. Einleitung

Zunächst möchte ich Ihnen erläutern, wie ich mich dem Thema dieses Symposiums - Sinn und Sinnlichkeit, wie es die Jane-Austen-Fans unter den Veranstaltern schön genannt haben - zu nähern gedenke, wie ich mithin meinen Beitrag im Kontext der Veranstaltung verstehe. Ernst-Dieter Lantermann hat die rhetorische Frage gestellt, ob man mit falschen Gefühlen richtig denken kann und sie vehement und mit guten Gründen bestritten. Ich möchte in gewisser Weise in dieselbe Kerbe hauen, aber etwas andere Akzente setzen und andere Argumente beibringen. Mein Thema ist das Verhältnis von Wissenschaft, Sinnlichkeit und Kunst, genauer gesagt: die Konstellation dieser drei Elemente im Zeichen der weltweiten Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Der Globale Wandel, dem wir uns gegenübersehen und dessen aktiver Teil wir sind, führt, so meine erste These, zu einem Verlust der Anschaulichkeit, zu einer Entwertung der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Kontrollfunktion der menschlichen Sinne und der alltagsästhetischen Urteilskraft. Die Dinge und Zusammenhänge, um die es im Globalen Wandel geht, werden komplexer, mikro- und makro-logischer, sie rutschen unter die Wahrnehmungsschwelle, sie entgleiten der Mesoskala unserer alltäglichen, über lange Epochen tradierten Sinnlichkeit. Die sinnliche Gewißheit der Welt, die Unmittelbarkeit, das Gegebensein der Phänomene des Globalen Wandels schwinden. Sie sind daher - und werden es zunehmend mehr - Gegenstand der Vermittlung, der Reflexion, des Erschließenes, kurz: sie wandern zusehends in die Domäne der Wissenschaft. Das ist einerseits weder dramatisch noch ein großes Problem: Vieles verstehen wir nicht via Sinnlichkeit, vieles gehört quasi naturgemäß zur Wissenschaft. Waa ist das Besondere, was das besonders Problematische beim Globalen Wandel? Ich werde zweitens die These zu begründen versuchen, daß mit dem Verlust sinnlicher Wahrnehm- und Kontrollierbarkeit des Globalen Wandels insofern eine kritische Entwicklung eingesetzt bzw. sich verstärkt hat, als dabei eine anthropologische und eine politische Lücke entsteht, die nicht allein durch eine Verwissenschaftlichung des Alltagslebens - diesen Trend einmal positiv verstanden - ausgeglichen werden kann. Dies kann, so wird meine dritte These lauten, nur durch eine transformierte - vielleicht im spekulativ-dialektischen Sinne: aufgehobene - Funktion von Sinnlichkeit und Kunst für die allgemein-menschliche Erfahrberkeit des Globalen Wandels erreicht werden. Was dabei - wie immer verändert - erhalten bleibt, ist - einen besseren Ausdruck habe ich derzeit nicht - die Autonomie der Kunst, die Eigen-Logik und Eigen-Sinnlichkeit des Ästhetischen. Ich werde also insgesamt die scheinbar paradoxe Behauptung aufstellen, daß das angesichts des Globalen Wandels notwendige zunehmende global-ökologische Bewußtsein nicht zu einer explizit ökologischen Ästhetik führen muß. Der Rückgewinnung einer auch alltagsästhetisch erforderlichen sinnlichen Kontrolierbarkeit globaler Umweltveränderungen ist mit einer autonomen Kunst und Sinnlichkeit mehr gedient als mit einer - wie immer gut gemeinten - ökologischen Instrumentalisierung der Kunst.

 

2. Globaler Wandel und Verlust der Anschaulichkeit

Wer heute über die ökologische Krise spricht, redet nicht mehr allein über die Verschmutzung des Mains durch Hoechst oder die Lärm- und Luftbelastung des Ostends durch den Frankfurter Autoverkehr. Das alles und noch viel mehr spielt zwar eine Rolle im ökologischen Diskurs heute. Aber es steht doch in einem deutlich veränderten und erweiterten Kontext. Worüber sprechen wir also, wenn wir über den Globalen Wandel sprechen? Das, was heute als "Globaler Wandel" (Global Change) bezeichnet wird, schreibt sich zunächst einmal ein in die allgemeine Kulturgeschichte der menschlichen Naturnutzung. Der Mensch nutzt Natur ja seit es ihn gibt - anders könnte es ihn nicht geben. Und er übernutzt und schädigt Natur auch, seit es menschliche Kultur gibt. Aber die Schädigungen bisher waren weitgehend lokal und auch sinnlich zu verorten. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hat hier erste Veränderungen gebracht: Fernwirkungen, Prozesse unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Das, was sich heute in der Mensch-Natur-Interaktion ereignet, ist in gewisser Weise sogar, im Zeichen einer sich globalisierenden Weltwirtschaft, das globale Zu-Sich-Selbst-Kommen des Industrialismus des 19. Jahrhunderts. Gerade im Blick auf die Schwellenländer, die gleichsam im Zeitraffer unsere alten Umwelt- und Sozialprobleme bekommen, gilt diese Bemerkung.

Gleichwohl kündigt sich auch etwas historisch Neues an. Waren es bislang nämlich in ihrem Bedingungsgefüge relativ einfache, lokale und zeitlich begrenzte Umweltveränderungen, die der Mensch auslöste, so haben wir es heute mit wesentlich komplexen, globalen und langfristigen Veränderungen der Natur zu tun. Intensität und Reichweite der zivilisatorischen Eingriffe haben sich teilweise dramatisch erhöht, bedingt nicht nur durch das weltweite Bevölkerungswachstum, sondern auch durch wirtschaftliches Wachstum, wissenschaftlich-technischen Fortschritt und - zumindest in bestimmten Weltregionen - durch ein gestiegenes Anspruchsniveau großer Teile der Weltbevölkerung. Das stofflich-energetische Niveau des zivilisatorischen Metabolismus hat sich spürbar erhöht, neue Stoffe (z.B. FCKW) und Energieträger (z.B. Plutonium) sind in die Produkt- bzw. Produktionspalette aufgenommen worden. Ein Blick auf die Phase seit dem Zweiten Weltkrieg macht deutlich, daß wir quantitativ und qualitativ in ein neues Stadium der gesellschaftlichen Naturbeziehungen eingetreten sind. Auch die Rückwirkungen auf die menschliche Zivilisation sind sehr viel gewichtiger als das, was wir bislang gewohnt waren. Zweifellos stellte auch die Übernutzung eines lokalen Waldgebietes für Bau- und Brennholzzwecke eine ernsthafte Gefährdung für die dort ansässige Bevölkerung dar. Gleichwohl sind die Ursachen relativ klar, die Wirkungen regional begrenzt, der Zeithorizont absehbar. Auch die Auswahl von möglichen Abhilfemaßnahmen seitens der lokalen Gemeinschaft ist deutlich: Suche nach neuen Waldgebieten, Holzimport, Technikwechsel im Energiesektor, notfalls Auswanderung. Für den sich abzeichnenden anthropogenen Klimawandel beispielsweise gilt dies nicht. Die Ursachen sind vielfältiger und vielschichtiger, die prozeßrelevante Zeitdimension ist deutlich größer, die Folgen für Mensch und Umwelt sehr viel weiträumiger und komplexer. Die Wirkungen lokaler menschlicher Akteure sind - bedingt durch die physikalischen und chemischen Eigenschaften der betroffenen natürlichen Systemkompartimente - unmittelbar global. Die möglichen Abhilfemaßnahmen sehen ganz und gar anders aus: eine neue Atmosphäre steht nicht zur Verfügung, funktionale Äquivalente fehlen ebenfalls, Auswanderung ist im negativen Sinn utopisch.

Für die Phänomene des Globalen Wandels heute gelten die Kennzeichen früherer anthropogener Umweltkrisen nicht; der Rahmen hat sich verschoben, die Dimensionen verwandelt. Die Phänomenologie dieses Wandels ist nicht mehr räumlich eingrenzbar, sondern direkt (systemisch) oder indirekt (kumulativ) globaler Natur. Das wird deutlicher, wenn sich man die wichtigsten dieser Veränderungen vor Augen führt (vgl. die Jahresgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, WBGU):

Insgesamt handelt es sich beim Globalen Wandel um Veränderungen der Leitparameter des Systems Erde (zivilisatorische und natürliche Systeme), um die Abnahme strategischer Naturgüter, die Verschiebung und Veränderung großräumiger Strukturen und Muster sowie um die Veränderung großräumiger Prozesse. Die - hochaggregierten - Zustandsänderungen des Erdsystems sind kritisch, weil und wenn sie die Reproduktion sozialer Systeme gefährden oder gar zu katastrophalen Phasenübergängen führen können. Die erwähnten Änderungen fassen auf hohem Aggregationsniveau in sich sehr komplexe Wirkungsgefüge zusammen, die zudem miteinander interagieren (z.B. Entwaldung und Süßwasserverknappung oder Urbanisierung und Abfallproblematik). Der Zeithorizont der angesprochenen Veränderungen ist - verglichen mit früheren Problemlagen - deutlich erweitert (z.B. beim Klimawandel oder bei toxischen oder atomaren Altlasten). Die Unsicherheit unseres Wissens bezüglich dieser Probleme ist größer. Gleichzeitig steigt die Relevanz des Wissens deshalb, weil Abhilfemaßnahmen geboten sind, soll eine möglicherweise katastrophentraächtige Fortsetzung der kritischen Entwicklungen vermieden werden. Das gilt beispielsweise im Hinblick auf die Sicherung der Welternährung angesichts von Bevölkerungswachstum, Bodendegradation und Klimawandel.

Gesellschaft, die einmal anhob, sich von Natur zu emanzipieren und als wissenschaftlich-technische Zivilisation die Abhängigkeit von natürlichen Bedingungen und Faktoren scheinbar vollständig abgestreift hat, gerät gerade aufgrund ihres Zivilisationsprozesses nur umso tiefer in Naturabhängigkeit hinein. In dieser neuen, selbsterzeugten Verwundbarkeit der Weltgesellschaft, in diesem anti-naturalistisch motivierten Naturalismus zweiter Ordnung besteht die moderne Dialektik der Aufklärung am Ausgang des 20. Jahrhunderts.

Diese Globalen Umweltveränderungen bedeuten eine enorme Veränderung der menschlichen Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten. Und wenn sich die Wahrnehmbarkeit und die darauf fußende Verstehbarkeit der Welt ändert, dann hat das nicht nur Folgen für diese Prozesse selbst - ihre Kontrollierbarkeit z.B. via Sinne schwindet -, sondern auch für unser eigenes Selbstbild. Ich möchte die mit diesem Wandel angespochenen Veränderungen nur in Stichworten umschreiben:

  1. Entwertung der sinnlichen Wahrnehmung: Viele der angesprochenen Problem- und Krisenlagen entziehen sich der sinnlichen Wahrnehmbarkeit (z.B kann niemand CO2 riechen, sehen...) und/oder wandern ab ins Mikorologische (Bodenerosion z.B.). Nur durch Vermittlungsapparaturen (z.B. Sensoren, Satelittewnaufnahmen, Luftbilder, Zeitvergleiche) werden viele Problemaspekte erst sichtbar. Wir erhalten immer mehr apparate-, deutungs- und expertenabhängiges Apparatewissen.
  2. Entgrenzung der Wahrnehmung: Räumlich und zeitlich fernere Dinge werden hier und jetzt wichtig, sind aber nicht mehr wahrnehmbar. Aus den Augen, aus dem Sinn? Das "menschliche Maß" der Vergleichbarkeit und der Einbettbarkeit in unseren Alltag geht verloren.
  3. Gleichzeitig wächst die Informations- und Deutungsflut. Jeder Tag bringt - nicht nur im Umweltbereich - neue Bilder, Zahlen, Grafiken, Filme, Bücher, Netzseiten, Interpretationen. Das Orientierungsproblem wird größer. In der Öffentlichkeit exisitiert dabei ein faktisch konstatierbares (wenngleich sachlich nicht unbedingt zu rechtfertigendes) Dilemma Zusammenhänge werden entweder einfach und verständlich dargestellt, sind dann aber oft monokausal, wenn nicht verrückt; wofern sie komplex und polykausal dargestellt werden, sind sie kaum noch verständlich. Hier liegt die große Aufgabe u.a. des Wissenschaftsjournalismus.
  4. Beides hat die verstärkende Komponente: Vervielfältigung der Sichten. Das gilt generell - das Stichwort sei hier der "Kampf der Kulturen", also die agonale Variante der multikulturellen Gesellschaft -, es gilt aber auch für die Thematik des Globalen Wandels: Experten sind verschiedener Meinung, die Nichtrgierungsorganisationen sehen die Dinge anders als die entsprechende Verwaltungsbürokratie, der Norden anders als der Süden...)

Halten wir fest: was immer die sinnliche Wahrnehmung, diese eine wichtige Basis des Ästhetischen, noch untergraben mag: der Globale Wandel tut ein Übriges, bringt einen enormen Ent-Sinnlichungs-Schub, entwertet, entgrenzt und überwältigt unser angestammtes Potential an sinnlicher Wahrnehmbarkeit und Orientierungsfähigkeit. Dieser Entwertung der Sinnlichkeit wird begleitet von der Aufwertung des Verstandes, laut Kant ja die zweite Quelle aller unserer Erfahrung und Erkenntnis.

 

3. Die wachsende Bedeutung von Verstand & Wissenschaft

Die überwiegende Mehrzahl dessen, was auf der Welt geschieht, entzieht sich unserer direkten sinnlichen Wahrnehmung. Das gilt (a) direkt: wir sind meistens garnicht dabei, sehen und hören nichts. Und es gilt (b) indirekt, viel prinzipieller: das, was geschieht, ist immer "mehr" als das, was wir sehen, hören. Zusammenhänge, Gründe, Wechselwirkungen, geschichtliche Hintergründe, mögliche Zukünfte etc. - sie alle sind prinzipiell nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern erschließen sich nur dem Gedanken, der Vorstellung, der Reflexion, dem Schlußfolgern, der vermittelten Erfahrung, dem kollektiven Gedächtnis. Das gilt verstärkt für den Globalen Umweltwandel.

Also wird dieser die säkulare Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Alltagslebens verstärken, weiter antreiben. Nur wer über Reflexionsvermögen, Schlußfolgerungsschärfe und wissenschaftliches Wissen oder doch Vermögen verfügt, kann die entsprechenden Interpretationen von Daten vornehmen, kann Kontexte sehen, Zusammenhänge aufmachen, Konsistenzen prüfen, Relevanzkriterien zur Auswahl wichtiger Informationen aus dem Rauschen der Informationssysteme entwickeln.

Was den Globalen Wandel angeht, so haben sich die Naturwissenschaften dieser Thematik schon seit einiger Zeit angenommen: Bodenkunde, Atmosphärenforschung, non-lineare Dynamik, Systemforschung, Satelitten, Geobiokybernetik, Modellierung, Ökosystemforschung.....

Auch die Sozialwissenschaften bemühen sich, wenngleich etwas später und weniger "breitflächig". Ihr angestammter Kulturalismus - die Abwertung der Natur und des Natürlichen zur Erklärung sozialer Tatbestände - hindert sie daran. Ferner erweist sich heute, im Zeichen gewollter und ungewollter Globalisierungen, der Nationalstaat als impliziter Bezugspunkt traditioneller Theorie im Sozialbereich zunhemend als Hindernis. Heute bedarf es also einer doppelten Entgrenzung der Sozialwissenschaften. Es gibt allerdings auch schon Ansätze transdisziplinärer Forschung auch mit sozialwissenschaftlicher Beteiligung (z.B. das QUESTIONS-Projekt am Potsdam-Institut).

Die Stunde der globalen ökologischen Krise, die Stunde des Globalen Wandels erweist sich also als Stunde der Wissenschaft. Sie mißt und zählt, sie erklärt und deutet, sie objektiviert und kommuniziert, sie bewertet und rät. Es führt kein Weg daran vorbei: ohne Verstand, ohne Logik, ohne Forschungsmethodik - kurz: ohne wissenschaftliches Denken in seiner ganzen Bandbreite (incl. Phantasie, qualitatives Schlußfolgern, politische Reflexion...) ist der Globale Wandel nicht zu erfassen und nicht zu bewältigen. Hier gilt Spinozas Satz aus seiner Ethik: Nicht lieben, nicht hassen, nur verstehen.

An dieser Stelle könnte man sich bequem zurücklehnen und sagen: "Nun ja, der Bedeutungsrückgang der Sinnlichkeit wird eben durch die Bedeutungszunahme der Wissenschaft kompensiert. Wir haben ja schließlich zwei Quellen der Erkenntnis: Wenn die eine dünner sprudelt und die andere reichhaltiger fließt - am Ende kommt dieselbe Menge Wasser heraus!" Dem ist allerdings, so finde ich, durchaus nicht so. Erkenntnis ist kein Nullsummenspiel. Vielmehr bleibt eine anthropologisch und politisch bedeutsame Lücke, eine Leerstelle zurück, wenn Sinnlichkeit schrumpft und Wissenschaft wächst. Das läßt sich an drei nur scheinbaren Auswegen verdeutlichen, die die Kunst angesichts ihrer derzeitigen Lage wählen könnte bzw, gewählt hat: der Verwissenschaftlichung, des komplementären Protests und der Ökologisierung.

 

4. Drei scheinbare Auswege: Verwissenschaftlichung der Kunst, Komplementärer Protest & Ökologische Ästhetik

Wenn ich recht sehe, hat die Kunst in und kraft ihrer Autonomie in diesem Jahrhundert im wesentlichen zwei Reaktionen auf die Verwissenschaftlichung der Welt gezeigt: Zum einen den komplementären Protest, das Beharren auf einer Art nicht-wissenschaftlicher Gegen-Welt (nehmen Sie den Surrealismus als Beispiel), zum zweiten die Angleichung oder doch Annäherung von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis (nehmen Sie das Bauhaus), drittens schließlich eine ökologische Ästhetik. Ästhetischer Irrationalismus und ästhetische Quasi-Wissenschaft sind aber beides eher hilflose Reaktionen auf die als geltend und wirkmächtig anerkannte Wissenschaft. Deren Objektivität des Weltzugangs bleibt in beidem unbestritten. Wenn ich recht sehe, dominiert heute eher die zweite Variante, also die Anlehnung oder gar die parodistische Anverwandlung an die Wissenschaften - und zwar an die "harten" und "avantgardistischen" Naturwissenschaften wie Neurobiologie oder Chaosforschung und die Verwendung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (Internet auf der documenta X). Was heißt heute nicht in der Kunst alles "Projekt", "Untersuchung" oder "Labor"? Ist eine solche Entwicklung nicht zu begrüßen - vor allem dann, wenn sich die Welt wandelt, dieser Wandel nur wissenschaftlich verstehbar ist und die modernen Wissenschaften sogar eine neue ökologische Ethik der Ganzheitlichkeit und des Bewahrens angenommen haben?

Ich möchte hier vorsichtig warnen. Nicht, weil ich gegen Austausch mit den Wissenschaften wäre; oder weil ich die ästhetische Beschäftigung mit dem Globalen Wandel für überflüssig hielte. Im Gegenteil. Ich glaube, daß eine solche Beschäftigung und ein solcher Austausch sehr nötig und auch sinnvoll sind, aber daß es nur dann für beide Seite wirklich fruchtbar und horizonterweiternd wirkt, wenn die Kunst sich auf ihre eigenen Dimensionen und Möglichkeiten besinnt und wenn für diese gleichsam intern in den Wissenschaften Anschlußfähigkeit besteht - so, wie es umgekehrt innerhalb der Kunst eine ästhetische Notwendigkeit, eine Art Drang geben muß, wissenschaftliche Elemente aufzugreifen und sich anzuverwandeln. Oft geht dies zu ungebrochen, zu ungewollt-parodistisch, nicht dialektisch genug.

Eine weitere Reaktion auf die Verwissenschaftlichung könnte in einer ökologisch gewendeten Ästhetik bestehen. Wäre das nicht die adäquate Antwort der Kunst auf die durch den Globalen Wandel bezeichnete neue Lage? Ich denke: nein. Das Schöne als Leitbegriff, als Idee des Ästhetischen, war und ist immer wieder in Gefahr, seiner Autonomie beraubt zu werden. Manchem Denken zufolge ist das Schöne auch garnicht autonom, d.h. für und durch sich selbst Gesetze, Regeln und Ausnahmen gebend, sondern heteronom, von anderem in seinem innersten Bestand abhängig. Die Kandidaten dieses Anderen, von dem das Schöne - sei es das der Kunst des Menschen, sei es das Schöne der Natur, um eine alte Unterscheidung zu zitieren - in seinem Kern abhängig sein soll, sind u.a.:

Ich möchte im folgenden die zunächst paradox anmutende These vertreten, daß wir im Angesicht der globalen ökologischen Krise keine im engeren Sinne ökologische Ästhetik (oder Kunst) brauchen, sondern gerade auf der Autonomie der Kunst - auch gegenüber ökologischen Ansprüchen - beharren sollten. Das Konzept einer Ökologisierung der Ästhetik ist nur sinnvoll zu verstehen, wenn man es als eine Öffnung der autonomen Kunst (und eine Sensibilisierung der Künstler) für ökologische Fragen und Problemstellungen versteht, die deren Kern nicht funktionalisiert, sondern respektiert. Nur so scheint mir eine "Ästhetisierung der Ökologie" - zu diesem mißverständlichen Ausdruck gleich näher - möglich zu sein.

Ein Beleg für die These von der auch ökologischen Unabhängigkeit des Ästhetischen mag sein, daß wir nur in einem oberflächlichen Sinn von der Häßlichkeit zerstörter oder gefährdeter ökologischer Zusammenhänge sprechen, z.B. von einer ölverseuchten Küste oder einer ausgeräumten Agrarlandschaft. In demselben oberflächlichen Sinn von "schön" oder "häßlich" kategoriesieren wir dann die allseits beliebten "Kulturlandschaften" als "schön", also etwa die Toskana, die Provence oder die Lüneburger Heide. Mein Argument dabei ist nicht in erster Linie, daß wir hier ein Stück "Natur" schön finden, das in Wirklichkeit seit geraumen Generationen vom Menschen durch Arbeit und Entwurf stark überformt wurde (und deshalb z.B. weder seine Klimaxvegetation noch seinen ursprünglichen oder "natürlichen" Tierbestand besitzt). Gleichwohl verdient Beachtung, daß wir in dieser landläufigen Redeweise das Prädikat "schön" weit weniger der Natur selbst als vielmehr einer historischen Konstellation aus Natur und Gesellschaft verleihen. Ein Gutteil dessen, was wir schön finden, ist also das Nützliche, das Ordentliche und Gepflegte, die wohlgeordnete (aber eben nicht: vollständige) Freiheit der Natur, das Wachsen und Gedeihen von Nutz- und Zierpflanzen etc. Auch Arbeit kann also "schön" sein bzw. "schöne" Produkte hervorbringen.

Wichtiger ist mir, daß eine autonomere, an großer Kunst gebildete Auffassung des Schönen in der Regel nicht zu einer Deckungsgleichheit des ökologisch Falschen mit dem Häßlichen führt. Vielmehr wird gerade auch die gefährdete oder zerstörte Landschaft zumindest aspekthaft das Prädikat "schön" verdienen. Viele von uns finden Wüsten "schön": Die Muster des Windes im Sand, das Spiel des Windes mit dem Sand, die großen Gegensätze von Tag und Nacht, plötzliche Regenfälle nach langer Trockenheit etc. Es dürfte die "Abstraktheit" der Landschaft sein, ein Zug ins Radikale und Kahle, ihre Härte, aber auch ihre Nicht-Nutzbarkeit für die meisten menschlichen Zwecke (Zweckfreiheit!), die hier gefällt. Ganz ähnliche Bilder und Beschreibungen evoziert aber auch die ausgeräumte Kultur- bzw. Agrarlandschaft - z.B. die Magdeburger Börde mit ihren baum- und strauchlosen hügeligen Ackerflächen. Auch hier ist Selbstzweck, auch hier nistet die Autonomie der Natur in aller zweckhaften Unterwerfung unter den Menschen. Auch hier mithin ist Schönheit. Ebenso die Küste nach dem Tankerunfall. Sieht sie nicht aus wie nach einem Happening, einer Art flüssiger Christo-Verpackung? Ist nicht der ölverschmierte Kormoran - dem Ornithologen und dem Naturschützer ein Graus - in sich ein schönes Bild, so glänzend und schwarz, wie er sich vor entsprechenden Flächen abhebt?

Dies alles soll nur unterstreichen, daß es nach meinem Dafürhalten einen klaren Bruch gibt zwischen dem Schönen einerseits und dem ökologisch Richtigen andererseits. Beides kann sich decken, aber das muß nicht sein. Der lobenswerte Versuch der Künste, der gequälten und zerstörten Natur beizuspringen, kann nicht von der Übernahme ökologischer Konzepte und Leitbilder (z.B. Gleichgewicht, Vielfalt) - die häufig genug auch innerökologisch umstritten sind - seinen Ausgang nehmen. Ausgangspunkt hat, so paradox das auch klingen mag, die Selbständigkeit der Kunst und der Eigenwert einer rein ästhetischen Weltbetrachtung und -gestaltung zu sein. Mit Blick auf die bereits konstatierte Verwissenschaftlichung unserer Weltwahrnehmung bedeutet das: das Deutungsmonopol der Wissenschaften muß ästhetisch gebrochen werden (also keine Anlehung via "Projekt" o.ä.), ohne daß doch die Wissenschaften im komplementären Protest insgeheim anerkannt oder im Rahmen einer ökologischen Ästhetik sektoral übernommen würden. Dies gelingt u.a. nur dann, wenn die Kunst an den inneren Grenzen der Wissenschaft ansetzen kann.

 

5. Die Grenzen der Verwissenschaftlichung und die Rolle von Sinnlichkeit & Ästhetik für eine Kontrollierbarkeit des Globalen Wandels

Auch für die modernen Wissenschaften gibt es Grenzen, also Orte oder Bereiche, wo sie nicht mehr gelten, wo ihre Aussagen problematisch, sinnlos oder gar gefährlich werden. Manche sind trivial, manche nicht.

  1. Finanzielle Grenzen
  2. Technische Grenzen
  3. Alltags- oder lebensweltliche Grenzen
  4. Politische Grenzen
  5. Wissenschaftliche Grenzen

An manchen Grenzen kann Kunst ansetzen. 3, 4 und 5 scheinen mir wichtige Punkte. Nicht, weil Kunst die Stelle des Politischen einnehmen könnte. Auch ihr sind in der demokratischen Gesellschaft (in den anderen sowieso) Grenzen gesetzt. Sondern deshalb, weil Kunst in Politik und Öffentlichkeit weitere, andere Entscheidungskriterien einbringen und zur Debatte stellen kann, die dann auch für die politische Selektion des wissenschaftlichen Prozesses relevant werden könnten. Die Stichworte Urbanisierung, Architektur, Stadtplanung z.B. wären hier zu nennen. Oder in der Landschaftsplanung: Warum sollte man der Landschaftsschönheit nicht einen ähnlichen Rang einräumen wie der Biodiversität? Gefordert ist hierbei also eine gewisse Ästhetisierung des Politischen - nicht als Bebilderung außerästhetisch vorgefaßter politischer Entscheidungen, sondern als ästhetische Beeinflussung des politischen Entscheidungsprozesses.

Ferner: Wissenschaft selbst wird sich unsicherer hinsichtlich ihrer objektivierenden, welterschließenden Kraft. Die Perspektivität der wissenschaftlichen Weltsicht wird mehr und mehr eingeräumt. Konstruktivismus. Ästhetische Elemente im Forschungsprozeß werden nicht mehr geleugnet ("Einfachheit, Eleganz, schöne Formel..."). Sicher: Hier sollte man nicht einfach alles glauben, was Wissenschaftler von sich geben! Zudem hat das Projekt der objektiven Wissenschaft, des Objektivierens von Zusammenhängen, die Sache selbst statt deiner und meiner Meinung eine nach wie vor wichtige anthropologische und politische Bedeutung, stellt eine Dezentrierungsleistung Alteuropas ersten Ranges dar und kann nicht einfach über Bord geworfen werden. Versachlichung, Ent-Perspektivierung, Nachvollziehbarkeit, Beweis, "Rechnen wir"... - all das dient auch der interkulturellen Verständigung und der intellektuellen Disziplin des einzelnen weltweit. Wir sind so zugemüllt mit Meinungen, Sensationen und Täuschunngsmanövern, daß wir den kühlen und klaren Kopf reproduzierbarer und nachmeßbarer Ergebnisse, des skeptischen Hinterfragens auf die ansichseiende Welt hin unbedingt brauchen. Also hier darf Kunst nicht vorschnell dem pseudo- oder populärwissenschaftlichen Zeitgeist hinterherhecheln.

Was sie allerdings kann ist: Die tatsächlich sich abzeichnenden Grenzen produktiv nutzen. Und eine der Richtungen dieser Produktivität ist durchaus, da trifft die Ökologisierung der Ästhetik etwas Richtiges, dem Eigensinn der Natur gegen das von Menschen Gemachte oder in dem Gemachtsein aufhelfen, es sichtbar und erlebbar machen. Zugegebenermaßen wird bei diesem Vorschlag von einem klassischen Natur- und Schönheitsbegriff ausgegangen, die beide überholt scheinen.

Gibt es Natur denn überhaupt noch? Ist sie nicht gänzlich anthropogen überformt, wo nicht zerstört? Und ist sie nicht - epistemisch gesehen - ganz und gar unser Konstrukt? Ich teile diese konstruktivistische Weltsicht nicht, weil sie die Dialektik von Wissen und Wahrheit unterläuft, wie sie etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes vorführte. Die Welt ist unsere Vorstellung - und kann für uns auch nichts anderes sein. Das betont der Konstruktivist zurecht. Was er aber leicht übersieht ist: Wir, unser Bewußtsein, ist nun einmal so beschaffen, daß es einen Unterschied machen muß zwischen dem, was nur für uns ist und dem, was an und für sich ist. Wir wissen - und wir wissen von etwas Wahrem außerhalb unseres Wissens. Sonst könnten wir garnicht - wissen. Natur nun ist ein umfassender Objekt- und Zusammenhangsbereich dessen, was uns als das Wahre gilt und in unserem Wissen erscheint. Wir wissen auch, daß Natur in kosmischer Dimension gedacht ein weit über das menschliche Hervorbringungs- und Zerstörungsvermögen hinausreichender Welt-Komplex ist. Das bedeutet u.a.: Ökologie ist menschliches Eigeninteresse. Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen Natur. Konstruktivistisch gesehen läßt sich die ökologische Krise garnicht recht erläutern.

Wie steht es um den Begriff des Schönen? Angesichts der Kritikalität und Katastrophenträchtigkeit des Globalen Wandels - inbesondere angesichts der Vielfalt von Naturgefährdung und -zerstörung - scheint die Frage naheliegend, was eine am klassischen Begriff des Schönen orientierte "ökologische Ästhetik" überhaupt für einen Sinn haben soll. Warum nicht einfach die Welt vor Zerstörung retten - gerade aus Interesse an ihrer Existenz -, statt sich an "interesselosem Wohlgefallen" (Kant) oder "Dingen als Selbstzweck" (Aristoteles) zu orientieren - und dadurch rein kontemplativ zu bleiben, zuzusehen, wie die Welt zugrundegeht?

Die Gefährdung und Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen (sowie die der bereits durch den Menschen geformten/überarbeiteten historischen Natur-/Kultur-Grundlagen) erfolgte und erfolgt nicht oder doch nicht dominant im Zeichen einer ästhetischen Ideologie des interesselos-Schönen, sondern des Nützlichen, Funktionalen, der Pragmatik oder auch Utopik des Besser-Leben-Wollens, des Fortschritts auch um den Preis von Ästhetik-Verzicht. Einmal dahingestellt die Frage, ob denn tatsächlich alles, was an Naturzerstörung geschah und geschieht, tatsächlich auch funktional, nützlich und fortschrittlich im Sinne der alltäglichen Lebensführung der Menschen ist (oder nicht nur sehr einseitig, klientilistisch, kurzfristig, umständlich...). In funktionaler Hinsicht wäre eine stärkere Berücksichtigung der genuin (also nicht: funktional) ästhetischen Dimension des Menschen und seiner Naturverhältnisse sicher auch ökologischer gewesen. So manches Nützliche oder Fortschrittliche wäre nicht umgesetzt worden, wofern das Schöne eine eigene Kraft der Geltung gehabt hätte. Der Sinn für die Schönheit - ob in Kunst oder Natur - sensibilisiert auch für die Vergänglichkeit, Verletzlichkeit und das Leiden in Natur und Menschenwelt. Gerade wenn man der Hegelschen Bestimmung der Kunst nachhängt, derzufolge sie aufs Unendliche und Absolute, auf die Idee zielt, wird die Endlichkeit, Relativität und Versehrbarkeit alles Darstellbaren bewußt. Die Kunst liegt quer zum Universum des Funktionszusammenhangs der Dinge. Sie sprengt alles heraus aus dem angestammten Sinn - selbst, um diesen sicht- und schätzbar zu machen. Ihr Sinnen und Scheinen gilt dem Anundfürsichsein, dem Zweckfreien. Gerade dadurch übt sie in den Kunstsinnigen - gleich ob Produzenten oder Konsumenten - den Sinn für Alternativen, für andere Möglichkeiten und für den Eigenwert der Dinge. Sie dient damit auch einem mittelbar ökologischen Anliegen - Natur als Seins- und Funktionsbereich um ihrer selbst willen als Wert für den Menschen -, ohne ökologisch motiviert zu sein.

Es mag trivial oder abgestanden klingen: Aber ohne die durch Sinnlichkeit angezeigte eine Grenze der Wissenschaft gibt es kein sinnvolles und lesbares Gesamtbild der Welt - auch nicht der Welt im Wandel. Alle Sinne sind dabei anzusprechen. Ohne Primärerfahrung von Natur macht auch die Computer-Rettung der Welt keinen Sinn. Und ohne Liebe zu den Dingen gibt es keine Erfahrbarkeit. Hier gilt - ganz entgegen Spinoza: Pour comprendre il faut aimer. Das mag altmodisch klingen. Schließlich leben wir - so sagen zumindest einige - im Zeitalter der Postmoderne. Aber wenn alles geht - warum dann nicht auch das Altmodische?

Schließlich muß bedacht werden, welche Schwierigkeiten mit dem Wort "Kontrollierbarkeit" oder gar "Kontrolle" verbunden sind. Die Probleme des Globalen Wandels liegen jenseits der und über den herkömmlichen Grenzen von Wissenschaften und Politik. Sie sind eben - mittelbar oder unmittelbar - globaler Natur. Das traditionelle Kontroll- und Handlungsintsrumentarium ist jedoch mehrheitlich nach diesen Grenzen ausgerichtet: Fachwissenschaft und Ressort- bzw. Nationalstaatspolitik. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten internationale Institutionen gebildet wurden - man denke nur an die UNO und ihre Unterorganisationen -, so haben diese gleichwohl nicht die erforderlichen Kompetenzen, Fähigkeiten und Mittel zur Kontrolle der Problematik. Nicht zuletzt daher der Anschein von Hypertrophie und Pseudoaktivität, von bloß symbolischer Politik mithin.

Aber selbst gesetzt den Fall, diese Institutionen seien stärker und kompetenter: weder die Künste noch die Wissenschaften sind für sich in der Lage dazu, der Kontrollierbarkeit des Globalen Wandels eine eindeutige Ausrichtung, eine klare Kontur oder ein definiertes Handlungsfeld zu geben. Dazu müssen sie zusammenarbeiten - wie ich finde im oben angedeuteten Sinn. Letztendlich bleibt aber die Kontrolle globaler Umweltveränderungen Aufgabe des noch nicht richtig existenten globalen Souveräns - der Menschheit - oder aber ihres realistischen Substituts, der Völker- und Staatengemeinschaft nebst ihren - hoffentlich effektiveren - globalen Institutionen und Mechanismen. In diesem - politischen - Rahmen allerdings ist Kunst sowenig verzichtbar wie Wissenschaft.