Der Islam und das westliche Selbstbild

Zu Kontroversen um Religion und Emanzipation

Von Birgit Rommelspacher

Wenn über Themen wie das Tragen eines Kopftuches, den Bau einer Moschee oder die Einführung des islamischen Religionsunterrichts so erbittert gestritten und so emotional diskutiert wird, wie derzeit in Deutschland, dann weiss jede/r - zumindest jede/r psychologisch Interessiert/e -, dass unterschwellig auch Themen der Mehrheitsgesellschaft mit verhandelt werden, indem eigene Probleme auf die anderen projiziert werden. Wenden wir uns einmal nur diesem Eigenanteil zu und lassen die Frage aussen vor, was diese Debatten mit dem Islam und dem Blick des Westens auf ihn zu tun haben, dann ist relativ schnell klar, dass es im wesentlichen um zwei Themen geht, um das Geschlechterverhältnis und um das Thema Religion.

Dabei scheint die Frage des Geschlechterverhältnisses ziemlich eindeutig zu sein: Frauen mit Kopftuch gelten als unterdrückt im Gegensatz zu den westlichen, emanzipierten Frauen. Eine genauere Beschäftigung rührt jedoch an Themen, die diese Eindeutigkeit in Frage stellen: Viele junge Frauen, die sich für das Kopftuch entscheiden, begründen das unter anderem damit, dass sie dann als Frau mehr respektiert und vor sexistischen Übergriffen sicherer seien. Angesichts der Debatte um sexuelle Belästigung, sexuelle Gewalt und Pornographie ein durchaus aktuelles Thema. Auch in der westlichen Kultur geht es um Fragen der "Ehre" - auch wenn man diese gerne den "tradtitionellen" Kulturen zuschreibt. Auch hier geht es darum, was die Gesellschaft glaubt, Frauen zumuten zu können, was jedoch nicht als Frage eines Ehrenkodex sondern in einer individualistischen Kultur wie der westlichen im Sinne der Verteidigung individueller Rechte diskutiert wird, wie etwa des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung etc. Auch die Tatsache, dass das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen in dieser Gesellschaft bei weitem die grösste Branche der Unterhaltungsindustrie darstellt, weist darauf hin, dass es sich hier um ein tabuisiertes und zugleich öffentliches, moralisch höchst widersprüchlich besetztes Thema handelt, wofür das westliche Modell wohl noch keine überzeugenden Lösungen gefunden hat.

Ähnliche Diffusität herrscht auch beim Thema der Geschlechterdifferenz, für die das Kopftuch ebenfalls als Symbol steht. Der westlich liberale Diskurs geht davon aus, dass es im Wesentlichen eine Frage der Beharrlichkeit von Dekonstruktionen ist, bis die Geschlechterunterschiede sich in Differenzen zwischen Individuen aufgelöst haben und alle gleich behandelt werden ohne "Ansehen der Person". Wie aber erklärt sich dann, dass in dieser Gesellschaft weiterhin Männer ihre Männerbünde pflegen in der Freizeit, namentlich im Sport, oder sie sich auch am Arbeitsplatz vorwiegend zueinander gesellen; dass Frauen sich ihre Bereiche schaffen, und sich z.B. der Index der Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten so gut wie nicht verändert hat. Das heisst, dass Frauen nach wie vor im wesentlichen typische Frauenberufe und Männer typische Männerberufe wählen, wenngleich sich das, was als typisch weiblich und als typisch männlich gilt sehr wohl verschiebt. Auch die Industriebetriebe richten ihre Abteilungen möglichst geschlechtshomogen aus. Und in den gemischtgeschlechtlichen Bereichen gibt es eine Unzahl von Ritualen, die offene oder unsichtbare Grenzen ziehen. Da mag Neid aufkommen, angesichts der scheinbaren Eindeutigkeit und Offenheit mit der in anderen Kulturen Geschlechterrollen definiert und Grenzen gezogen werden. Solche und viele weitere Ungeklärtheiten und Tabus im westlichen Geschlechterverhältnis werden unbewusst über die Anderen angesprochen, die hier sichtbar ein Zeichen setzen.

Aber auch eine selbstbewusst sich zeigende Religiosität provoziert, obwohl Religion für viele heute kein Thema mehr zu sein scheint, denn vielfach herrscht die Meinung vor, dass sich mit dem Vorrücken der Moderne die Glaubenssysteme überleben würden und dass unsere säkularisierte Gesellschaft der beste Beweis dafür ist. Dass es mit der Säkularisierung in dieser Gesellschaft nicht allzuweit her ist, hat spätestens die heftige Auseinandersetzung um das Kruzifix-Urteil gezeigt, in der argumentiert wurde, dass das Kreuz als Symbol dieser Kultur in jedes Klassenzimmer gehöre. Auch steht die Macht der christlichen Kirchen in dieser Gesellschaft, z.B. als grösster Arbeitgeber im sozialen Bereich, in keinem Verhältnis zur faktischen Religiosität in diesem Land. Kaum einer wagt sich dem entgegenzustellen. Viele trauen sich eine dezidiert areligiöse Position nicht zu - nach dem Motto, man kann ja nie wissen. Für besondere Anlässe wie Hochzeit und Tod fühlt man sich durch die Kirche doch irgendwie gestützt.

Religiosität wird auch durchaus positiv mit Nachdenklichkeit, Ernsthaftigkeit und dem Bemühen um moralische Integrität und soziale Verantwortung konnotiert. Ja, Religion wird vielfach sogar als eine Instanz gesehen, die als einzige noch in einer immer pluraler werdenden Gesellschaft Gemeinsamkeiten herstellen und verbindliche Maßstäbe formulieren könnte. Zuweilen steigert man sich in Phantasien hinein, die Religion zum Hort von Geborgenheit und Ursprünglichkeit verklären. Diese Nostalgie hat Max Weber eindrucksvoll mit seinem berühmten Wort vom Religionsverlust als einer "Entzauberung der Welt" zum Ausdruck gebracht.

Wir können also von einem Mythos der Säkularisierung sprechen, der zum einen die Bedeutung von Religion in der Vergangenheit verklärt und zum anderen die Macht der christlichen Institutionen und die der christlichen Kultur in unserer Gesellschaft heute unterschätzt. Säkularisierung bedeutet nicht einfach das Verschwinden von Religiosität, sondern es bedeutet vor allem die Privatisierung von Religion und gleichzeitig ihre Verweltlichung, das heisst die Transformierung religiöser Züge in weltliche Strebungen. Das gilt beispielhaft für die "protestantische Ethik" die nach Max Weber mit entscheidend für die Entwicklung des Kapitalismus im Westen war, also die Askese des modernen Berufsverständnisses mit ihrer Wertschätzung von Strebsamkeit und Selbstverleugnung, aber auch für den missionarischen Eifer der westlichen Kultur, die glaubt die ganze Welt erlösen zu müssen.

Zeichen islamischer Religiosität konfrontieren diese Gesellschaft mit einer anderen Perspektive und zeigen damit, wie christlich diese Kultur noch immer ist; sie zeigen auch die Grenzen des Universalismus westlicher Prägung und die Relativität von Weltanschauungen, die sich als alleinseligmachende begreifen. Dabei mobilisieren sie auch Sehnsüchte nach Eindeutigkeiten sowie die Trauer um den Verlust von Gemeinschaftlichkeit.