Christian Sterzing

Europa 2003:
Alte Probleme - neue Chancen

 

2003 wird wohl nicht als ein markantes Jahr in die europäische Integrationsgeschichte eingehen, doch in diesem Jahr werden für historische Meilensteine im Jahre 2004 viele grundlegende Weichenstellungen erfolgen. Mit der Einigung über die große neue Erweiterungsrunde um zehn weitere Mitgliedstaaten und der Einberufung des Konvents zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung wurden im vergangenen Jahr weitreichende Entscheidungen getroffen, die die Zukunft der Europäischen Union (EU) prägen werden. Die Irakkrise und deren Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis bedeuten eine Nagelprobe für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die andauernde Wirtschafts-, Haushalts- und Beschäftigungskrise in vielen Mitgliedsländern stellt die Koordination der Wirtschaftspolitik in der EU auf den Prüfstand.

 

1. Der Konvent: Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung

Nach etwas mühsamem Beginn hat der Konvent zur Zukunft Europas nun die erhoffte Eigendynamik entwickelt. Der Kampf um ein mehrheitlich mit Parlamentariern aus dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der EU besetztes Gremium hat den Debatten über eine Reform der EU neuen Schwung verliehen. Es ist gelungen, die Logik der Regierungskonferenzen zu durchbrechen und die Diskussionen zu entnationalisieren. Die sach- und problemorientierte intensive Arbeit des Konvents ist erstaunlich produktiv und hat - auch wenn sie noch längst nicht abgeschlossen ist - schon jetzt Fortschritte gezeitigt, die man vor Monaten kaum für möglich gehalten hätte: Die "Europäische Verfassung" ist kein Unwort mehr, dessen Erwähnung einen Tabubruch bedeutete und aus Rücksicht auf gewisse integrationsskeptische Mitgliedstaaten zu unterbleiben hatte. Heute herrscht ein breites Einverständnis im Konvent darüber, dass man einen Verfassungstext erarbeiten will. Die Grundrechtecharta, die vom ersten Konvent im Jahr 2000 erarbeitet wurde und vom Europäischen Gipfel in Nizza nur feierlich verkündet wurde, wird nun wohl zu einem integralen Bestandteil dieser Verfassung und damit auch rechtsverbindlich werden. Um diese Grundrechte auch einklagbar zu machen, wird derzeit im Konvent nach praktikablen Wegen gesucht. Die EU soll Rechtspersönlichkeit erhalten. Vor Jahren noch heftig abgelehnt, weil aus der Sicht einiger Mitgliedsländer dies einen Schritt zum europäischen Staat - den man nicht will - bedeutet hätte, konnte auch hier weitgehendes Einvernehmen erzielt werden. Einen Kompetenzkatalog - wie von den Bundsländern gefordert - wird es nicht geben, denn dies hätte die Dynamik der Integrationsentwicklung beeinträchtigt. Mit der Neuordnung und Systematisierung der Kompetenzen zeichnet sich eine Regelung ab, die Abgrenzungsprobleme vermindert, wenn sie auch das systemimmanente Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlicher Ebene einerseits und europäischer Ebene andererseits nicht löst - weil dieses politische Problem eben nicht durch eine Verfassung ein für allemal lösbar ist. Allen Versuchen, durch neue Gremien das ohnehin komplexe Institutionengefüge der EU weiter zu "verkomplizieren", wurde bislang eine Absage erteilt.
Die Liste wachsender Gemeinsamkeiten ließe sich verlängern. Doch dies darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Bereichen noch erhebliche Differenzen bestehen. In vielen Debatten wird deutlich, dass grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen über den Charakter der zukünftigen EU durchaus weiter existieren. Da sind die "Integrationisten" auf der einen Seite, die sich eine Stärkung und Demokratisierung der europäischen Institutionen und eine möglichst weitgehende Übertragung von Kompetenzen auf die EU auf die Fahnen geschrieben haben. Ihnen stehen die "Intergouvernementalisten" oder "Souveränisten" gegenüber, die der Vergemeinschaftung von Politiken misstrauen und den Kern nationalstaatlicher Souveränität bewahren wollen, indem sie das mitgliedstaatliche Vetorecht zu erhalten trachten und den Schwerpunkt ihrer Bemühungen auf eine Verbesserung der intergouvernementalen Zusammenarbeit, also der Kooperation zwischen den Regierungen, legen.

 

"Intergouvernementalisten" versus "Integrationisten"

Diese unterschiedlichen Perspektiven prägen fast alle Debatten. Am sinnfälligsten wird dies in der Auseinandersetzung über den europäischen Präsidenten: Die "Intergouvernementalisten" wollen den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer sitzen, stärken und schlagen vor, in oder aus ihrem Kreis einen Europäischen Präsidenten für ein paar Jahre zu wählen. Die Gegner dieses Vorschlags kritisieren die damit verbundene Schwächung der EU-Kommission und die fehlende demokratische Kontrolle. Stattdessen präferieren sie die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament, dessen ständiger Kontrolle er und seine Kommissionsmitglieder zu unterwerfen sind. Auf diese Weise könnte sich die Gemeinschaftsinstitution Kommission zu einer europäischen Regierung entwickeln, was darüber hinaus auch zu einer Politisierung der Europawahlen beitragen würde. Die große Zukunftsfrage ist: Zu wessen Gunsten wird das derzeitige Spannungsverhältnis zwischen der dem europäischen Gemeinwohl verpflichteten Kommission und dem nationale Interessen vertretenden Rat aufgelöst oder verändert? Ein Konventsmitglied brachte es auf den Punkt: Monet (ein Vater des europäischen Integrationsgedankens) oder Metternich?
Essentiell ist auch die Frage, in wie weit es im Konvent gelingen wird, weitere Schritte zu einer integrierten Außen- und Sicherheitspolitik zu kommen, statt die intergouvernementale Zusammenarbeit fortzusetzen. Gerade hier wird mit jeder neuen Regelung ein Kernbereich nationalstaatlicher Souveränität berührt, der die skizzierten grundsätzlichen Gegensätze auf den Plan ruft. Hier bahnt sich eine so genannte "Doppelhut"-Lösung. Die Außenpolitik der EU soll nicht mehr von einem Kommissar für Außenbeziehungen (derzeit Chris Patten), einem Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (derzeit Javier Solana) und dem jeweils amtierenden Ratspräsidenten (derzeit der griechische Regierungschef Simitis), sondern nur noch von einem Gesicht repräsentiert werden, nämlich einem Kommissionsvizepräsidenten, der in Personalunion Hoher Repräsentant des Rates ist. Auch dies ein Kompromiss zwischen "Integrationisten", die die gemeinsame Außenpolitik allein bei der Kommission ansiedeln, und "Intergouvernementalisten", die die außenpolitische Zuständigkeit beim Rat belassen wollen, doch dieser "Doppelhut"-Kompromiss erscheint wesentlich praktikabler und realistischer als der Kompromiss mit dem Europäischen Präsidenten, der Unvereinbares zu verbinden sucht.
Hier bewahrheitet sich die Feststellung: Verfassungsfragen sind Machtfragen. Der jüngste deutsch-französische Kompromissvorschlag, nämlich beides zu tun: einen Europäischen Präsidenten vom Rat und den Kommissionspräsidenten vom Europäischen Parlament wählen zu lassen, stellt einen Rückfall in die Machtlogik der Regierungskonferenzen dar, ein Kompromiss, der die entscheidenden Fragen vertagt, wegen unklarer Kompetenzabgrenzungen neue Probleme statt Transparenz schafft, demokratischen Legitimationsansprüchen nicht genügt und deshalb auf heftigen Widerstand im Konvent stößt.
In der Auseinandersetzung wird deutlich, dass der Konvent noch vor seiner eigentlichen Bewährungsprobe steht. Auf der anderen Seite ist unübersehbar, dass der Konvent sich während der vergangenen Monate ein solch politisches Gewicht erarbeitet hat, dass nun auch die Außenminister wichtiger Mitgliedstaaten dort als Regierungsbeauftragte fungieren und in die Debatten eingreifen. Kurz nach der Bundestagswahl hat der deutsche Außenminister Joschka Fischer durch seine Mitgliedschaft ein Signal gesetzt, der französische, spanische, belgische etc. folgten. Dies bedeutet nicht nur eine politische Aufwertung des Konvents, sondern muss auch als Indikator für die Absicht der Regierungen gedeutet werden, die Debatte nicht einfach "laufen" zu lassen. Schon der Grundrechtskonvent hatte eine Eigendynamik entfaltet und ein politisches Gewicht gewonnen, dass sein Ergebnis die Europäische Grundrechtecharta von den Staats- und Regierungschefs nolens, volens - akzeptiert werden musste. Nun mischen also die nationalen Regierungen verstärkt im Verfassungskonvent mit und es muss abgewartet werden, ob das Selbstbewusstsein der Parlamentarier und ihr Widerstand ausreicht, um zu verhindern, dass der Konvent sukzessive zu einer verkappten Regierungskonferenz mutiert, in der oftmals nationale Rücksichtnahmen, faule Kompromisse und sachfremde "deals", die allein dem Zweck der Gesichtswahrung und nicht dem integrationspolitischen Fortschritt dienen, den Fortgang der Debatte bestimmen.

 

Transparenz der Debatte und gesellschaftliche Partizipation

Der Wunsch und die Hoffnung auf eine breite gesellschaftliche Debatte über Ziele, Arbeit und Ergebnisse des Konvents begleiten diesen seit seinem Beginn. Schon bei der Initialzündung für den Konvent auf dem europäischen Gipfeltreffen in Laeken (Belgien) wurde eine breite Beteiligung der Zivilgesellschaft gefordert.
In seiner Arbeit versucht der Konvent, diesen Forderungen gerecht zu werden, in dem seine Arbeit im Internet zeitnah dokumentiert wird und er sich für Anregungen, Ideen und Vorschläge offen zeigt. Das "Forum der Zivilgesellschaft" bildet eine Plattform, die im Wesentlichen die organisierte Zivilgesellschaft anspricht, jedem Einzelnen aber auch offen steht. Zum anderen wird durch europäische Anhörungen (z. B. dem Jugendkonvent) eine Partizipation ermöglicht, die auf der nationalstaatlichen Ebene ergänzt werden soll. Der Bundestag wie auch einige Landtage veranstalteten im vergangenen Jahr ebenfalls Anhörungen und Plenardebatten. Parteien und Verbände versuchen, mit eigenen Veranstaltungen die gesellschaftliche Diskussion voranzutreiben.
Festzustellen ist heute, dass es erstmals in der Geschichte eine weitreichende Debatte über die künftige Gestalt der Europäischen Union gibt. Aber bislang war es eher eine Debatte in der Öffentlichkeit als eine öffentliche Debatte, die der Europäische Rat von Laeken eigentlich anstoßen wollte. Es gibt zu wenig Diskussion in den Mitglieds- und auch in den Beitrittsländern, sogar innerhalb der politischen Eliten, von einer transnationalen europäischen Debatte sind wir noch weit entfernt. Die grenzüberschreitende Debatte ist vor allem wichtig, weil es bei den Reformen nicht darum gehen kann, nationale Verfassungs- und Demokratiemodelle auf die europäische Ebene zu übertragen. Zu viele Vorschläge und Verfassungsentwürfe tragen noch immer deutlich die Handschrift spezifischer nationalstaatlicher Verfassungstraditionen. Es fehlt nicht selten das Bewusstsein, dass die Einzigartigkeit dieses supranationalen Staatenverbundes EU auch neuer spezifischer Strukturen bedarf. Gewiss, Verfassungsdebatten sind Strukturdebatten, für die zumeist nur Spezialisten zu begeistern sind - auch die deutsche Verfassungsdebatte nach der Vereinigung verlief bekanntlich im Sand. Eine breite Öffentlichkeit ist weniger an Strukturen als an konkreten Ergebnissen interessiert. Dennoch darf nichts unversucht bleiben, die Debatte zu verbreitern und deutlich zu machen, dass es dabei um Fragen von existenzieller Bedeutung für Europa geht: Wie sollen demokratischere Strukturen in der EU aussehen? Wie kann die Handlungsfähigkeit der EU erhalten werden, damit sie auch mit 25 Mitgliedern noch funktioniert? Wer soll was in der EU machen?
Die Verantwortung für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs kann nicht allein auf den Konvent und seine Mitglieder abgeschoben werden. Alle politischen Kräfte sind hier gefordert. Der Konvent wird nach seiner anfänglichen intensiven Anhörungsphase und der zunehmenden Konkretisierung seiner Arbeitsergebnisse nun eine zweite Anhörungsphase folgen lassen müssen, um zu prüfen, ob die sich herauskristallisierenden Regelungen den kritischen Fragen der Zivilgesellschaft standhalten und den Hoffnungen und Wünschen entsprechen.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage eines europäischen Verfassungsreferendums. Mitglieder des Konvents, die diesem Anliegen durchaus positiv gegenüber stehen, verweisen jedoch darauf, dass dieses Problem erst am Ende diskutiert werden soll. Doch der bisherige Verlauf der Debatten gibt denjenigen Recht, die für eine grundlegende Entscheidung am Anfang der Arbeit plädiert haben, weil die Perspektive eines Referendums schon die Arbeit des Konvents und den Verlauf der Debatten beeinflusst hätte: Der heilsame Druck eines "drohenden" Referendums zwingt die Verfassungsväter und -mütter, den Auftrag, eine demokratische und verständliche verfassungsrechtliche Grundlage für die Reform der EU zu schaffen, wirklich ernst zu nehmen.

 

Europäische Identität

Die Verfassungsdebatte bietet die große Chance, erhebliches zur europäischen Identitätsfindung beizutragen. Was sind nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen und angesichts unterschiedlicher nationaler Traditionen und Kulturen die Gemeinsamkeiten? Wie können in einem historisch einzigartigen Staatenverbund wie der EU Diversität und Homogenität in einen gemeinsamen institutionellen Rahmen untergebracht werden? Wieweit lässt sich Einheit schaffen und gleichzeitig Vielfalt erhalten? Gibt es so etwas wie ein spezifisch europäisches Gesellschaftsmodell, das sich von anderen unterscheidet?
Der europäische Verfassungsprozess ist etwas einzigartiges. Nie zuvor wurde versucht, in einem breiten transnationalen Diskussionsprozess einen institutionellen Rahmen zu finden, der die über Jahrhunderte gewachsenen politischen und verfassungsrechtlichen Kulturen und Traditionen von 25 Staaten zu etwas Gemeinsamen zusammenfügt. Es kann und darf nicht darum gehen, bestimmte nationalstaatliche Vorstellungen des 19. Jahrhundert nun auf die europäische Ebene zu transferieren, sondern es muss und es wird etwas Neues entstehen. Der Hinweis auf die historische Dimension dieses Prozesses soll die drängende Ungeduld, mit der viele diese Entwicklung beobachten nicht schwächen, sondern den Mut zu kreativen Lösungen stärken.

Dies führt nicht zuletzt auch zur Notwendigkeit einer Debatte über die Ziele der EU, die allerdings bisher auch im Konvent noch nicht richtig begonnen hat, da institutionelle Fragen noch immer im Vordergrund stehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich im Artikel 2 des EU-Vertrages und in anderen Kapiteln der Vertragswerke ein wahres Sammelsurium von Zielvorstellungen angesammelt, denen die Stringenz fehlt. Hier für eine Prioritätensetzung zu sorgen und diese in den einzelnen Politikbereichen durchzubuchstabieren wäre eine lohnende Aufgabe, die die Reform von einem (scheinbar) institutionellen auch zu einem explizit politischen Projekt machen würde. Was bedeutet z.B. das Bekenntnis zu "nachhaltigen Entwicklung" in der Agrar- oder Energiepolitik? In welchem Verhältnis stehen Ziele wie Umwelt- und Verbraucherschutz zum Prinzip des freien Warenverkehrs? Ist die weitere Förderung der Atomenergie vereinbar mit den Vorsorgeprinzip?

In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen läge auch eine Chance der Politisierung der Verfassungsdebatte, was sicherlich auch ein breiteres Interesse an der Arbeit des Konvents zur Folge hätte. Doch es besteht Anlass für die Annahme, dass dem Konvent für diese Debatten und für die Entwicklung von Reformansätzen die Zeit fehlen wird.

 

2. Erweiterung

Auf dem Rat von Kopenhagen wurden die Weichen für die nächste Erweiterung endgültig gestellt. In einem beispiellosen Transformations- und Anpassungsprozess, der den Beitrittsstaaten große Opfer abverlangte, ist nun ein Grad an Konvergenz der demokratischen, wirtschaftlichen und administrativen Strukturen erreicht, der die Aufnahme dieser zehn mittel-, ost- und südeuropäischen Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen sowie Malta und Zypern) zum avisierten Datum - 1. Mai 2004 zulässt. Als Beitrittsperspektive wurde Rumänien und Bulgarien das Jahr 2007 genannt.
Wenn auch diese Erweiterung, zu Recht als historische Vereinigung Europas gepriesen, inzwischen aus politischen Gründen überfällig war, so ist sie nicht ohne Risiken. Zum einen müssen in den Beitrittsländern nun Volksabstimmungen oder Referenden durchgeführt werden. Unübersehbar ist, dass in vielen Ländern die Unterstützung für einen Beitritt in breiten Teilen der Bevölkerung gesunken ist und die Ängste vor einer ungewissen Zukunft wachsen. Es wird deutlich zu machen sein, dass die Erweiterung für Mitgliedsländer wie Beitrittsstaaten von Vorteil ist, wenn auch einzelne Berufsgruppen und Wirtschaftszweige mit Schwierigkeiten zu rechnen haben, wenn sie dann in dem wachsenden europäischen Binnenmarkt dem scharfen Wind des Wettbewerbs ausgesetzt sind. Übergangsregelungen in den verschiedensten Bereichen dienen dazu, sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen entgegenzuwirken und unliebsame Folgen des Öffnungsprozesses abzufedern. Zum anderen gilt es, auch in der "alten" EU die Unterstützung für den Erweiterungsprozess zu stärken. Ängste vor billigen Waren und Arbeitskräften sind auch bei uns nicht ausgeräumt. Zu wenig ist in das Bewusstsein gedrungen, dass schon in den letzten Jahren die Erweiterung Deutschland nur Vorteile gebracht hat. Der starke Anstieg des Handelsaustausches mit den Beitrittsländern hat bei uns schon jetzt Hunderttausende von Arbeitsplätzen gesichert. Politisch ist diese Erweiterung im Jahre 2004 sicherlich ein historischer Meilenstein, wirtschaftlich markiert sie nur ein weiteres Stadium des Zusammenwachsens vor allem von Ost und West.
Abzuwarten wird sein, wie sich die neuen Mitglieder als Mitglieder gerieren werden. Die Aufnahme von zehn neuen Ländern mit einer zum Teil sehr unterschiedlichen nationalen Geschichte und politischen Tradition wird das Gesicht der EU verändern. Werden durch ihre Mitgliedschaft eher die "Integrationisten" oder die "Intergouvernementalisten" Verstärkung erhalten? Viele dieser Länder genießen erst seit nicht viel mehr als einem Jahrzehnt nationale Unabhängigkeit. Der Kerngedanke der europäischen Integration besteht jedoch in der Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU-Ebene. Die "Alt-Mitglieder" hält nicht nur die Überzeugung zusammen, dass die europäische Einigung ein Friedenswerk darstellt und grenzüberschreitende Probleme kooperativer Lösungen bedürfen, um Frieden und Wohlstand zu sichern, sondern auch die Einsicht, dass angesichts der Globalisierung - wirtschaftlich, technologisch, politisch - die nationalstaatlichen Problemlösungsfähigkeiten begrenzt sind und allein supranationale Lösungen und das bedeutet den teilweisen Verzicht auf nationale Hoheitsrechte und Vetomöglichkeiten, Gestaltungsperspektiven und Einflussmöglichkeiten eröffnen.

 

Erweiterung und EU-Reformen

Hier wird der enge Zusammenhang zwischen Erweiterung und EU-Reform offenbar. Die Strukturen der EU wurden in ihren Grundzügen für sechs Mitgliedstaaten geschaffen. 25 und mehr Mitglieder erfordern andere Verfahrens- und Entscheidungsmechanismen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhalten. Auf der letzten Regierungskonferenz, die mit dem Gipfeltreffen im Dezember 2000 in Nizza abgeschlossen wurde, konnten sich die Staats- und Regierungschefs in langen Nachtsitzungen nur auf die allernötigsten Veränderungen einigen, um die Erweiterung nicht weiter zu verzögern. Doch angesichts des mageren Verhandlungsergebnisses schien die Notwendigkeit umfangreicherer Reformen unabweisbar, hatte sich die herkömmliche Regierungskonferenz doch als ungeeignetes Instrument erwiesen, um dem Integrations- und Reformprozess neue Impulse zu geben.
Es ist aber nicht nur die zunehmende Größe der EU, die eine institutionelle Reform notwendig macht. Mit wachsender Supranationalisierung, also Vergemeinschaftung von Politikbereichen, dem sukzessiven Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in den Räten und dem Ruf nach mehr demokratischer Kontrolle dieser Form internationaler Kooperation von Regierungen, stellt sich die Frage nach Reformen auch aus der systemimmanenten Entwicklung der Union. Die die Reformforderungen begründende, heute immer wieder beschworene, wachsende Heterogenität der EU bezieht sich somit nicht nur auf die große Zahl neuer Mitglieder, sondern auch auf die strukturellen politischen Veränderungen in der europäischen Zusammenarbeit.
Eine richtige Konsequenz aus dieser Entwicklung wurde schon auf der Ratssitzung in Laeken 2001 insofern gezogen, als dass die Beitrittsländer - obwohl noch nicht Mitglieder vorzeitig in den EU-Konvent aufgenommen wurden, wenn auch nicht völlig gleichberechtigt. Es wäre kaum nachvollziehbar gewesen, hätte man sie angesichts des bevorstehenden Beitritts von diesen Reformberatungen ausgeschlossen. Eine zweite, langfristig viel schwerwiegendere Konsequenz zeigt sich in der sich intensivierenden Debatte über die so genannte Flexibilität, d. h. die in einer europäischen Verfassung zu regelnde Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit für eine Staatengruppe in Politikbereichen, in denen nicht alle Mitglieder zu einer gemeinschaftlichen Politik bereit sind. Soll eine Staatengruppe eine gemeinsame Rentenpolitik betreiben, eine Energiesteuer einführen, gemeinsame Streitkräfte aufstellen und sie z. B. in den Irak entsenden dürfen, obwohl andere Mitgliedstaaten nicht mitmachen können oder wollen? Die bisherigen Regelungen in den europäischen Verträgen, die durchaus schon eine solche verstärkte Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen zulassen, haben sich bislang als unpraktikabel erwiesen. So wichtig und umstritten konkrete Regelungen sind - Soll es eine Mindestzahl an Mitgliedstaaten für eine solche verstärkte Zusammenarbeit geben? Müssen alle Mitglieder zustimmen, wenn sich einige Mitgliedsländer in bestimmten Politikbereichen enger zusammenschließen wollen? usw. - bleibt doch die Frage offen, ob eine derartige Möglichkeit der Bildung von "Untergruppen" im Rahmen der EU auf Dauer als integrationspolitischer Reformmotor oder als Spaltpilz wirken wird?
Auch andere, ohnehin bestehende Reformnotwendigkeiten werden durch die Erweiterung verstärkt. Das betrifft nicht nur die Agrarpolitik sowie die Struktur- und Regionalpolitik - sie stehen in der öffentlichen Debatte im Vordergrund, weil es hier um Verteilungsauseinandersetzungen über erhebliche Geldsummen geht -, sondern auch andere Politikbereiche, wie z.B. die Energie-, Atom- oder Verkehrspolitik. Die Hoffnung, dass sich der Konvent auch mit den Grundlinien einer Reform einzelner Politiken beschäftigt, schwindet jedoch angesichts der knappen, noch verbliebenen Zeit für den Konvent.

 

Mitgliedschaft und Nachbarschaft

In der Folge der letzten Sitzung des Europäischen Rates hat die Entscheidung zur Beitrittskandidatur der Türkei die heftigsten Auseinandersetzungen ausgelöst. Neben den strittigen türkeispezifischen Fragen nach der demokratischen, wirtschaftlichen und Menschenrechts- und Minderheitsfragen betreffenden Beitrittsfähigkeit dieses Landes ist damit die Frage nach den Grenzen Europas neu aufgeworfen worden. Die EU steht grundsätzlich allen europäischen Ländern offen. Ist die Türkei ein europäisches Land? Oder die Ukraine, Moldawien oder Russland? Anders als der afrikanische oder die amerikanischen Kontinente verfügt Europa über keine eindeutigen geographischen Grenzen. Der Rückgriff auf andere Beurteilungsmaßstäbe und Entscheidungskriterien ist deshalb notwendig. Gibt es so etwas wie eine europäische Identität? Was macht sie aus? Gibt es Grenzen für die Heterogenität dieser europäischen Wirtschafts-, Rechts- und Wertegemeinschaft, bei deren Überschreiten das Gesamtprojekt gefährdet wird? Wie werden sie definiert? Gibt es eine quantitative Größenbegrenzung für die supranationalen Kooperationsformen der EU, deren Überschreitung zur Funktionsunfähigkeit führen würde?
Diesen Fragen kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Die Türkei-Diskussion ist jedoch nur das aktuelle Beispiel für eine dringend notwendige Perspektivdebatte. Hier wird von konservativer Seite, mehr oder weniger deutlich - die christlich-abendländische Identität Europas beschworen, die zum Beispiel ein moslemisch geprägtes Land wie die Türkei nicht teile. Außerdem liege dieses Land ja nur zu einem kleinen Teil auf dem europäischen Kontinent. Auch sei es zu groß, wobei der Hinweis auf die im Vergleich zu Zentraleuropa vergleichsweise hohe Geburtenrate nicht fehlt. Diese Argumentation würde jedoch konsequent weitergedacht auch ein zweifellos europäisches Land wie Albanien wegen seiner moslemischen Bevölkerung auf Dauer ausschließen, der Ukraine (und Russland) eine europäische Perspektive nehmen und Moldawien im Ungewissen lassen. In den letzten Jahren wurden diese Erweiterungsfragen als Tabuthema behandelt, um sie "zu gegebener Zeit" zu diskutieren und zu beantworten. Besser sei es, alle Optionen offen zu halten und potenziellen Bewerberländern nicht schon jetzt die Tore zu verschließen. Es fragt sich aber, ob diese Debatte nicht doch bald offensiv geführt werden muss, weil gerade die causa Türkei zeigt, dass nicht nur unredlich, sondern auch politisch gefährlich sein kann, gewisse Länder immer wieder hinzuhalten und ihnen damit auch die Chance zu nehmen, eine andere geopolitische Orientierung zu suchen und zu entwickeln. Viele gute Gründe, die hier nicht erörtert werden können, sprechen für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Doch es gibt auch gute Gründe, an der Funktionsfähigkeit einer EU von Wladiwostok bis Tamaraset zu zweifeln. Es wird deshalb in Zukunft darauf ankommen, die Grenzen zu definieren und in der Nachbarschaft der EU korrespondierende geopolitische Räume supranationaler Kooperation zu fördern und zu entwickeln.
Im Kontext der Grenzdiskussion wird grundsätzlich die Frage nach den Beziehungen der EU zu ihren Nachbarn gestellt. Die Erweiterung der EU darf nicht dazu führen, dass in der EU oder an ihren Grenzen neue "Eiserne Vorhänge" entstehen. Jetzt ist für die europäischen Institutionen die Zeit gekommen, das Ausmaß der künftigen Assoziierung mit wichtigen Nachbarn im Osten und Süden festzulegen. Dringlich ist deshalb die Aufgabe, ein neues Instrumentarium nachbarschaftlicher Zusammenarbeit zu entwickeln, dass die EU nicht zu einer Festung werden lässt. Die Gestaltung dieser Beziehungen ist auch für die Definition der Rolle der EU im globalen Rahmen von elementarer Bedeutung. Im Konvent hat man erst begonnen, sich mit diesem Problem zu beschäftigen.

 

3. Wirtschaftspolitik

Die in den letzten Jahren erodierende Akzeptanz der EU hängt nicht allein vom Erfolg oder Misserfolg der Demokratisierungs- und institutionellen Reformbemühungen ab. Neben dieser so genannten Input-Legitimation ist eine breite Unterstützung für den europäischen Integrationsprozess auch vom politischen Output abhängig. Gerade bei dem für viele UnionsbürgerInnen zentralen Problem, der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, wird aber der EU nur wenig Relevanz und Problemlösungskompetenz zugesprochen.

Trotz der gemeinsamen Währung in zwölf EU-Staaten wird weiterhin ein großes Defizit bei der Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik konstatiert. In Brüssel wird immer wieder beklagt, dass der Rhetorik des Europäischen Rates von Lissabon, die EU-Wirtschaft zu modernisieren und die EU zur "weltweit dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Region" zu machen, bislang zu wenig Taten gefolgt sind. Die Bilanz der so genannten Lissabon-Strategie für das Jahr 2002 ist gemäß der Beurteilung der Kommission "eher enttäuschend". Auch hier wird vieles von dem politischen Willen der EU-Regierungen abhängen, die sich im März 2003 zum Frühjahrsgipfel in Brüssel treffen werden, um über weitere Maßnahmen zu beraten. Die Defizite sind längst identifiziert: "Nationale Protektionismen führen dazu, dass z. B. die Reformen für einen einheitlichen Finanzmarkt schmerzhaft langsam fortschreiten. Das europäische Gesellschaftsrecht kommt seit 30 Jahren kaum von der Stelle. Die bürokratischen Hürden für den grenzüberschreitenden Handel sind für kleine und mittlere Unternehmen noch immer zu hoch. Arbeitsmarktreformen kommen nur mit Schneckentempo voran. Es gibt keinen Konsens bei der Steuerharmonisierung."

Gewiss, die Lösung einiger struktureller Fragen bedarf eines langen Atems. Andere Fehlschläge zeigen aber, dass auch der politische Wille fehlt, von der Rhetorik zur Realität zu kommen. Solange die EU aber bei der Lösung zentraler wirtschaftlicher Probleme in den Augen vieler Europäer keine relevante und sichtbare Rolle spielen kann, wird es schwierig werden, ihre Existenz zu legitimieren und ihren Nutzen überzeugend nachzuweisen. Für den Konvent sehr grundsätzlich, aber schon für den Gipfel in Brüssel sehr aktuell, stellt sich die Frage, ob Wege gefunden werden können, die Rolle der Europäischen Kommission zu stärken, damit sie wirksamer als bisher für ein abgestimmtes wirtschaftspolitisches Vorgehen der Mitgliedstaaten sorgen kann.

 

4. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Schenkt man den vielen Meinungsumfragen in Europa Glauben, dann ist der Wunsch der europäischen Öffentlichkeit nach einer EU unübersehbar, die in der Welt mit einer Stimme spricht. Die Bevölkerung kann es nicht nachvollziehen, dass die Mitgliedstaaten auf einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit beharren. Das Beispiel Irak zeigt deutlich, dass die EU von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik noch weit entfernt ist.
Die augenblicklichen Dissonanzen verstellen sicherlich den Blick für die in den letzten Jahren erreichten Fortschritte. Gegenüber vielen Ländern und Regionen haben die europäischen Außenminister inzwischen eine übereinstimmende Politik entwickelt. Das beste Beispiel für die gewachsene Konvergenz der Außenpolitiken der EU-Staaten ist der Balkan. Nach erheblichen Differenzen zu Beginn der 90er Jahre - man erinnere sich nur an Auseinandersetzungen im Hinblick auf die Anerkennungspolitik der Nachfolgestaaten Jugoslawiens - hat sich die EU zu dem wesentlichen politischen Einflussfaktor in Südosteuropa entwickelt. Heute ist der im Gefolge des Kosovo-Krieges vereinbarte Stabilitätspakt für Südosteuropa Grundlage für die gemeinsame Politik, die trotz aller Schwierigkeiten, krisenpräventiv, vermittelnd und stabilisierend wirkt. Ohne die EU wäre der Verfassungskompromiss zwischen Serbien und Montenegro nicht denkbar, ohne die Präsenz von Vermittlern und Truppen der EU in Mazedonien wäre dieses Land kaum vor einem Bürgerkrieg bewahrt worden.

Im Allgemeinen stimmen die EU-Mitgliedstaaten z. B. ihr Abstimmungsverhalten in den internationalen Organisationen untereinander ab auch in der UN. Die Normalität gemeinsamen Abstimmungsverhaltens wird kaum wahrgenommen, Schlagzeilen machen die Auseinandersetzungen und Differenzen. Der Umgang mit dem Irak ist dafür nur das aktuellste Beispiel.

Nur partiell kann dieses Problem durch institutionelle Reformen gelöst werden. Das Instrumentarium der gemeinsamen Politikfindung im Rat ist kompliziert, langwierig und immer wieder von nationalen Konkurrenzen geprägt. Der Konvent wird gewiss weitere Verbesserungen vorschlagen, doch kaum jemand zweifelt daran, dass es zu einer Vergmeinschaftung nicht kommen, es folglich bei einer im Kern intergouvernementalen Zusammenarbeit bleiben wird. Die Repräsentanz, das "Gesicht" der europäischen Außenpolitik wird mit der sich wahrscheinlich durchsetzenden "Doppelhut"-Lösung kohärenter werden, doch auch dieser "europäische Außenminister" wird weiterhin nur das umsetzen können, was im Rat der Außenminister beschlossen wird. Welche politischen Spielräume er besitzt, wird weniger von den institutionellen Vorgaben abhängen, als von dem politischen Gewicht der (aus-)gewählten Persönlichkeit.

Auch noch so gute Verfahren und Entscheidungsmechanismen vermögen keine gemeinsame Politik zu generieren, wenn der gemeinsame politische Wille fehlt und (vermeintliche) nationale Interessen und grundsätzliche Überzeugungen in Konflikt geraten. Mit Appellen allein ist eine gemeinsame Politik nicht herbeizuführen.

Besonders im Zusammenhang mit der Frage nach einer gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik stellt sich das Problem europäischer Identität besonders dringend. Die Überlegungen zu einer Verteidigungsunion und einer europäischen Armee berühren nicht nur einen weiteren elementaren Kernbereich nationalstaatlicher Hoheitsgewalt, sondern werfen die Frage nach der Rolle Europas in der Welt auf. Die Entnationalisierung von Armeestrukturen kann schon einen Schritt aus der militärischen Logik vergangener Jahrhunderte bedeuten, doch gilt auch hier die Warnung vor der schlichten Übertragung nationalstaatlicher Strukturen auf die europäische Ebene. Eine weitgehende Arbeits- und Funktionsteilung nationaler militärischer Potenziale in einen gemeinsamen militärischen Verbund könnte praktisch dazu führen, dass den Nationalstaaten das militärische Instrument aus der Hand genommen wird, weil es nur noch gemeinsam genutzt werden kann. Doch die notwendige Neudefinition militärischer Aufgaben bleibt damit weiter offen.

Diese grundsätzlichen Debatten werden längst nicht in allen EU-Ländern geführt. Für die meisten ist zwar eine stärkere Kooperation im militärischen Bereich angesagt und wünschenswert, nicht zuletzt in der Hoffnung auf Einsparungen bei den Militärausgaben, doch das nationale Entscheidungsrecht über den Einsatz von Truppen will niemand aufgeben. In anderen Mitgliedstaaten einigen der ehemals neutralen oder nichtbündnisgebundenen, wird schon die Beteiligung an einer engeren militärischen Kooperation kritisch gesehen. Angesichts der militärischen Abstinenz dieser Länder stellt auch die Definition der EU als einer Verteidigungsunion ein politisches und institutionelles Problem dar, über das im Konvent nachgedacht wird.

In den europäischen Auseinandersetzungen über die Irakpolitik manifestiert sich ein grundlegender Dissens nicht nur über die Rolle des Militärischen, sondern auch über die Rolle Europas in der Welt. In das Zentrum der Auseinandersetzungen ist, nicht immer deutlich ausgesprochen in den letzten Monaten immer deutlicher das transatlantische Verhältnis getreten. Während die einen auf europäischer Eigenständigkeit bestehen, betonen andere die zentrale Bedeutung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Die jüngsten Entwicklungen haben bei vielen die Überzeugung gestärkt, dass die Welt ein starkes Gegen-gewicht zur US-Außenpolitik braucht. Wer könnte das bilden außer Europa? Aber reicht diese "negative Definition" aus? Lässt sich die außenpolitische Identität Europas allein aus der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten schöpfen?

Selbstbehauptung gegenüber der einzigen verbliebenen Supermacht wird für viele zum Schlüsselbegriff europäischer Außenpolitik. Doch auch hier sind Zweifel angebracht, denn was anderes bedeutet dies, als die geschwundene globale Bedeutung der europäischen Nationalstaaten nun auf das "Neue Europa" zu projizieren? Spezifisch europäische Außenpolitik wäre vielmehr inhaltlich neu zu bestimmen: In der Tradition der "Zivilmacht Europa" müsste es um globale Verantwortung gehen, die in der zivilen Konfliktbearbeitung und Krisenprävention, in der Orientierung an Menschenrechten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie an einer gerechten und ökologischen Politik ihren konkreten Niederschlag findet. Die Politikfelder, in denen eine solche europäische Außenpolitik Betätigungsfelder finden würde, stehen auf der internationalen Tagesordnung: globaler Klimaschutz, gerechte Gestaltung der Globalisierung, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Unterstützung für Länder der "Dritten Welt" etc. Dass es "der" europäischen Außenpolitik in dieser Beziehung bisher vielfach an Kohärenz und Stringenz fehlt, soll nicht verschwiegen werden, doch es gibt für eine solche Außenpolitik durchaus Ansätze, die konsequent weiterzuentwickeln sind.

Nicht Konkurrenz und Selbstbehauptung gegenüber den USA wären dann die Leitlinien für eine europäische Außenpolitik, sondern globale Verantwortung und Multilateralismus. Das transatlantische Verhältnis bedarf vor diesem Hintergrund einer Neubestimmung. In der aktuellen Irakdebatte offenbart sich eine Entwicklung, deren Ursachen in den großen Brüchen der Wendejahre 1989/1990 liegen und deren Bedeutung und Konsequenzen uns erst langsam bewusst werden.

Es mag altmodisch klingen, wenn der europäische Einigungsprozess immer einmal wieder als Friedensprojekt beschrieben wird. Doch das Europa der Integration hat das Europa der Konkurrenz, des nationalstaatlichen Wettbewerbs, der (gescheiterten) Gleichgewichtspolitik und der Kriege abgelöst. Die friedenstiftende Wirkung der europäischen Integration wird durch die EU-Erweiterung ausgedehnt und durch den Konvent und den europäischen Verfassungsprozess vertieft und stabilisiert. Durch eine gemeinsame europäische Außenpolitik wird sie hoffentlich bald auch in internationalem Rahmen ihre Spuren hinterlassen.

Christian Sterzing war für Bündnis 90/ Die Grünen Mitglied des Deutschen Bundestages von 1994-2002 und ist Mitglied im Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für den Frieden in Nahost (DIAK).