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Junge Kunst und die grün-nahen Stiftungen

Von Susanne Gölitzer

Ist Kunst nach Tschernobyl möglich?

Umweltkatastrophen
und technische Defekte mit breitenwirksamen Folgen haben spätestens nach Tschernobyl das Gefühl vieler Menschen in der Bundesrepublik und vielleicht ganz Mitteleuropa verstärkt, daß ihre Lebensgrundlagen bedroht sind. Anders als in gesellschaftlichen Krisenzeiten, in denen die ökonomische Situation vieler elend war und die Existenz bedrohte, geht die Bedrohung in den 80er Jahren vom technischen, zivilisatorischen Fortschritt selbst aus. Die Natur ist in Folge nicht mehr Ausgleich zur Kultur und unerschöpfliche Ressource für die Menschheit, sondern von irreversibler Zerstörung bedroht. Diese Zerstörung ist nicht einfach durch das Wiederaufrappeln einer krisengeschüttelten Gesellschaft im Hau-Ruck-Verfahren wiedergutzumachen. Das radioaktiv verseuchte Gebiet rund um Tschernobyl und die den Strahlen ausgesetzten Menschen gesunden nicht innerhalb einer Generation.

Mit dem Verzehr eines Fischbrötchens verbindet sich plötzlich die existentielle Frage, wird mein Körper den Angriff durch Schwermetalle und andere Giftstoffe überstehen? Die Natur ist eben nicht mehr der naiv offene Raum für alle zivilisationskritischen und romantischen Träume eines besseren Lebens jenseits der Kultur, sondern Teil der zerstörten und den Menschen bedrohenden Umwelt selbst geworden. Der Genuß eines Pfifferlinges kann gefährlich sein. Die Natur ist in der Erfahrung des Menschen eben nicht mehr der unbeherrschte Raum, der freigegeben worden war, die Black Box der Triebe und fremden Vorgänge. Die Dichotomie Natur-Kultur, auf der moderne Gesellschaften ihren technischen Fortschritt gründeten, zerfällt angesichts der Erfahrung, daß der technische Fortschritt Natur und damit auch Kultur zerstört oder auch zu einer "anderen" Natur, einer durch den Menschen geschaffenen Natur führt - denn: Gehört die Gen-Tomate zur Natur? Ist sie genauso Natur wie unbehandelte Tomaten? Gibt es überhaupt noch unbehandelte Tomaten? Wo also hört heute Kultur auf und beginnt die Natur und umgekehrt?

Da die das Individuum wie auch die gesamte Menschheit bedrohenden Unfälle und Nebenwirkungen des Fortschrittes nicht national sind, sondern wie die fast sprichwörtlich gewordene Wolke grenzüberschreitend sind und sich ebensowenig an ideologische oder andere wertgebundene Grenzen halten, kann immer weniger ein Feindbild gefunden werden, dem sich all diese Bedrohungen ursächlich zuschieben lassen. Umgekehrt sind die Handlungsmöglichkeiten, gegen solche umfassenden Bedrohungen vorzugehen, nicht leicht auszuloten.

Kein Wunder ist es also, daß sich die Grünen in den 80er Jahren zu einem Sammelbecken von vielfältigen Vorstellungen zum politischen Umweltschutz, von utopischen Restbeständen, romantischen Naturbildern, alternativen Lebensentwürfen (im Vergleich zur Nachkriegsgeneration der Mütter und Väter), politisch-religiösen Apokalypse-Visionen etc. entwickelten. Kleinster gemeinsamer Nenner war dabei die Farbe Grün.

Die Gründung und Entstehung einer Partei ist im Bereich des Politischen eine Reaktion dieser veränderten gesellschaftlichen Stimmung. Andere Reaktionen sind die unterschiedlichen, mittlerweile teilweise institutionalisierten Bewegungen und Gruppierungen, die meist zunächst einen bestimmten Zweck oder ein spezielles politisches Ziel verfolgten. Noch andere Reaktionen sind die zahlreichen Begriffe, Bilder und Symbole, die für eine Zeit oder eine gesellschaftliche Erscheinung gefunden werden: Neue Unübersichtlichkeit, Risikogesellschaft, No-future Generation, X-Generation u.v.m. Grob gesagt, kann Kunst als Geigerzähler für die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Selbstdefinitionen verstanden werden. Die veränderten Stimmungen und das veränderte Verständnis vom Verhältnis "Mensch und Natur", "Fortschritt und Ursprünglichkeit", "Kollektivität und Inividualismus" usw. sind in der Kunst abzulesen. Weil Kunst sich erlauben kann, was Politik und Wissenschaft sich viel weniger erlauben können, nämlich keine Rücksicht auf Sachzwänge, bessere Argumente oder die Machbarkeit der Vorhaben nehmen zu müssen, sind hier Zukunftserwartungen, Hoffnungen und Lebensentwürfe viel eher formuliert, als das realistischerweise zu erwarten ist.

Analog zu den Fragen: Welche politischen Möglichkeiten gibt es nach Tschernobyl, um mit den nicht abzuschätzenden Folgen des Fortschrittes umzugehen und wie kann solcher Fortschritt politisch kontrolliert werden? kann für die Kunst die Frage gestellt werden: Welche Sprache kann nach Tschernobyl noch gefunden werden? Welche Ausdrucksformen erlauben die Darstellung des Unvorstellbaren und der Hoffnung noch, wenn es eine gibt?

Tschernobyl ist zum Symbol selbst geworden und dient einer Zeitbeschreibung als Chiffre. Es ist also nicht verwunderlich, daß die Naturzerstörung einerseits zum Thema der Literatur, der darstellenden und singenden Kunst wird und andererseits die Sprache dieser Kunst verändert. Barocke Naturdarstellungen werden zur unfreiwilligen Satire oder bitteren Ironie. Müllkunst wird (erneut) populär.

Ideale ohne Ideologien

Der Verlust der Sicherheit auf unzerstörte Lebensgrundlagen wird in den neunziger Jahren durch die Zerstörung der Systeme im Weltmaßstab "ergänzt". Den stabilen Ideologien bricht die Realität weg. Alle Menschen sehen sich unversehens einer anderen Weltordnung gegenüber. Eine Generation aber, die mit dieser Ordnung aufgewachsen ist und diese für quasi-natürlich hielt, sieht sich neben der globalen Naturzerstörung einer zweiten Zerstörung, nämlich der einer quasi-natürlichen Ordnung gegenüber. Stalin und Lenin können nach 1991 nicht mal mehr ironischerweise als Button angeheftet werden, was in den achtziger Jahren durchaus noch möglich war, weil sie nicht mehr als Autoritäten zitiert werden. In einer Zeit, in der die Ideologien des Sozialismus an realem Wert verlieren und auch die „soziale Marktwirtschaft" immer weniger ideologische Anziehungskraft besitzt, müssen, wenn überhaupt, andere Orientierungslinien, Werte und Ideale gefunden werden.

Eine weitere Frage für die Beschäftigung mit der gegenwärtigen Kunst ist also, wie die politischen Veränderungen, die die Lebensentwürfe der Einzelnen präformieren, zum Thema gemacht und welche Sprache und welche Bilder dafür gefunden werden? In einer Sprache, in der sich jeder Ismus lächerlich macht, werden andere individuelle und gesellschaftliche Entwürfe gefunden werden.

Neue Kunst in Neuen Medien

Eine dritte fundamentale Veränderung gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit scheint wesentlich. Mit der inflationären Entwicklung der Computertechnik entstehen vielfache Möglichkeiten der schnellen und raffinierten Kommunikation. Zu einem Thema können unzählige Bilder und Texte gefunden, geladen und gestaltet werden. Das Urheberrecht scheint im Zeitalter digitaler Computertechnologien anachronistisch. Simulation, Cyperspace, Plastizität usw. sind durch den Computer Imaginationen auf hohem Niveau mit hoher Suggestivkraft. Die Welt im Internet und die Sprache des Computers ist nicht national geordnet. Theoretisch kann jeder Anwender zu allen literaten Archiven dieser Welt Zugriff finden, sofern sie bereits ans Netz angeschlossen sind. Ob rechtsradikale Äußerungen und Versammlungen oder Wissenschaftler, am Netz ist alles international. Könnte sich das in Zukunft nicht als viel sinnstiftender erweisen als die Zugehörigkeit zu einer Nation, Klasse, Minderheit usw.?

In der Kunst hat die veränderte Selbstdefinition bereits längst begonnen. Man macht hypermediale Kunst, die nicht mehr am Produkt orientiert ist. Nichts, was hinten rauskommt und dann in ein Buch geschrieben, auf eine Schallplatte gepreßt, auf eine Leinwand gemalt ist. Was kann hier Kunst überhaupt sein, wenn sie im Computer nicht mehr als fixes Produkt sichtbar wird, sondern als permanent sich wandelndes Ergebnis von Vernetzung und fortlaufender Interaktion mit anderen Leuten am Netz? Ein Kunstwerk ist hier nicht mehr einem Subjekt zuzuordnen. Ganz zu schweigen von nicht mehr streng zu ziehenden Grenzlinien zwischen Werbung, Fernsehen und Kunst. Alle Bilder können jederzeit in den Text, das Bild, die Installation eingespeist werden. Intentional oder zufällig, Berührungsängste mit Kommerz und Werbung sind längst gefallen. Vielleicht ist der Umgang mit Bildern, Texten, Dokumenten aus der Geschichte dadurch naiver. Weil sich einiges zufällig ergibt, ist es dem ursprünglichen Kontext beraubt. Es wird gesampelt und dadurch entsteht vielleicht Neues.

Eine Generation, die mit dem Computer und seinen Möglichkeiten aufwächst, muß ein anderes Verhältnis auch zur Realität haben als eine Generation, für die Cyperspace nichts anderes war als Science Fiction. Das Geschichten-Erzählen wird zur veralteten Kunstform, Sampling, Hypermedia-Kunst, Comic u.v.m. verweigern genau dieses.

Für eine bündnisgrün-nahe Stiftung wäre es aus dreierlei Gründen interessant, der gegenwärtigen Kunst in's Gesicht zu schauen:

  1. Da sich in der Kunst Realitätsaufassungen und Utopien oder einfach nur Handlungsstrategien ausdrücken, vergegenwärtigen sie nicht bloß die bestehende Realität aus der Sicht unterschiedlicher Individuen, sondern zeigen auch Umgangsweisen mit Realität. Diese Umgangsweisen können natürlich sehr desillusionierend sein, aber auch hoffnungsvoll. Um an diesen Umgangsweisen nicht vorbeizuarbeiten, muß die bündnisgrün-nahe Stiftung hier ein Sensorium entwickeln.
  2. Eine "junge" Kunst kann deutlich machen, wie die Erfahrungen in den 80er Jahren für die Sprache und die Handlungsstrategien der Einzelnen sozialisierend wirkte. Indem man versteht, wie Menschen, die in den 80er und 90er Jahren politisch und sozial prägende Erfahrungen machten, mit diesen Erfahrungen umgehen, kann man auch verstehen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen könnten. Weil die Bündnisgrünen einen relativ hohen Prozentsatz Jungwähler hat oder zu haben bemüht sind, dürften die vielleicht generationsspezifischen Ansätze gesellschaftlichen Engagements von besonderen Interesse sein. In der Auseinandersetzung mit den etablierten Künstlern, die nach dem Krieg die bundesrepublikanische Kunstlandschaft beherrschten, können auch die gegenwärtigen Ausdrucksformen (naives Zitieren historischer Ereignisse und Chiffren, Sampeln, Anglizismen usw.) als Sprache einer Generation (vielleicht) verständlicher werden.
  3. Durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Ansätzen der Realitätsverarbeitung und der gegenwärtigen Ausdrucksformen könnte eine bündnisgrün-nahe Stiftung vielleicht einen Ansatz finden, neue Werte, Kulturen, Formen des Engagements u.v.m. in die öffentliche Diskussion zu bringen. Dies würde vor allzu großer Larmoyanz gegenüber den „schlechten" gegenwärtigen Zeiten schützen, in denen die Beteiligung an Bildungsveranstaltungen, Parteiarbeit, Gremienarbeit u.ä. immer mehr abzunehmen scheint.