Veranstaltungsreihe

Ideologie und Biopolitik

Europäische Gespräche 2002

Der "Neue Mensch".
Alte und neue Evolutionsverbesserer

Freitag, 07. Juni, 20.00 Uhr
Ikonen-Museum, Brückenstraße 3-7, Frankfurt am Main

Alte und neue Biopolitik.
Zwischen ethnischem und genetischem Selektieren

Freitag, 13. September

Die Metaphorik der unbegrenzten Machbarkeit.

Freitag, 06. Dezember

 

 

Thema der Reihe

Die Diskussionsreihe umfasst thematisch eine Spannbreite von dem Komplex Ideologie des "neuen Menschen"/totalitäre Gesellschaft bis zum Komplex Menschenbild/wissenschaftlich-technologische Utopien (Dystopien). Damit wird eine Frage der Vergangenheit auch in Hinblick auf das thematisiert, was uns heute als möglicherweise bevorstehende Zukunft angeht. Speziell zum dritten Teil der Reihe heißt es in dem Elaborat: "Während die Gefahren der Genforschung im Zusammenhang mit rassistischen Phantasien aus dem Bereich der nazistischen Eugenik oft heraufbeschworen werden, scheinen Analogien zwischen Vorstellungshorizonten der kommunistischen Ideologie des "neuen Menschen" und der technologischen Utopien kaum beachtet worden zu sein. Die kommunistische und technizistische Utopie des neuen Menschen, bzw. seiner Machbarkeit scheint andere Elemente der Vergleichbarkeit zu bieten. Charakteristisch ist z.B. der universalistische Anspruch gegenüber dem ethnizistisch-rassistischen Leitfaden der Selektion und Züchtung zwecks Gewinnung einer neuen germanischen Rasse. Die unkritische anthropologische Setzung bildet den weiten geistesgeschichtlichen Hintergrund (ich nenne das "Bioideologie", und meine darunter eine bestimmte geschichtlich gegebene Denk- bzw. Sichtweise) von so verschiedenen Phänomenen wie der leninistisch-stalinistischen Revolution als gewollten Produktion einer neuen Gesellschaft lauter neuen Menschen einerseits und den Leitideen bei der Revolution in neuen Technologien andererseits, deren Propheten charakteristischerweise auch verkünden, einen "Traum der Menschheit" verwirklichen und die Spezies Mensch genetisch, biologisch "verbessern" zu wollen. Wenn Roy Kurzweil, der "einflussreichste Wissenschaftstheoretiker Amerikas", phantasiert, dann hört sich das so an: "Nanoboter können unser Hirn verbessern. Wir haben nun hundert Trillionen Verbindungen, in Zukunft werden wir eine Million oder Trillion Mal so viel unser Eigen nennen. Dadurch können wir unser Gedächtnis und unsere Denkleistung vergrößern. Menschliche Intelligenz wird steigen. Der Sinn des Lebens besteht für mich darin, an der Evolution teilzunehmen und Wissen zu schaffen … Ich fühle mich frustriert, dass ich so viele Bücher nicht lesen, so viele Menschen nicht treffen, so viele Websites mir nicht anschauen kann. Deshalb bin ich geradezu scharf darauf, meinen Horizont so zu erweitern. Ich halte das für den nächsten Schritt in unserer Evolution" (Faz, 5. VII. 2000) Leo Trotzkis Phantasien über den Übermensch lauteten: "Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner Organe - bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel - höchste Klarheit, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern ... Das Leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und - unter seinen eigenen Händen - zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychologischen Trainings ... Im tiefsten und finstersten Winkel des Unbewussten, Elementaren und Untergründigen hat sich die Natur des Menschen selbst verborgen. Ist es denn nicht klar, dass die größten Anstrengungen des forschenden Gedankens und der schöpferischen Initiative darauf gerichtet sein werden? Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen Vieren zu kriechen, um vor den finsternen Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! ...", (Literatur und Revolution, München 1972). Trotzkis Vision war, dass der Mensch vor den finsternen Vererbungsgesetzen nicht "kapitulieren" darf und sein Ziel über das kollektiv-experimentell gestaltete Leben zum "höheren gesellschaftlich-biologischen Typus" dem "Übermensch" zu gelangen. Nun sind die Vererbungsgesetze nicht mehr so finster wie noch vor 7-8 Jahrzehnten, die Phantasie der Vordenker ist aber in der gleichen darwinistisch-metaphysischen Dimension geblieben, so dass Herr Kurzweil mittels besserer technischer Mittel - Nanotechnologie usf. - an der "Evolution teilnehmen" möchte. In seine Konzeption würde die Redewendung vom erstarrten homo sapiens auch gut passen. Das Vokabular der beiden Evolutionsutopisten gleicht sich so sehr, dass es nahe liegt, sie vom Menschenbild her betrachtet auf der geistig-geschichtlich gleichen "Stufe" (ein beliebter Begriff der Evolutionsmetaphysiker - vor allem in der Form "höhere", "nächste" Stufe) anzusiedeln. Bei dem einen steht die Gesellschaft und das Kollektiv im Vordergrund, bei dem anderen die Technologie und das biologische Individuum - beide aber hängen der Metaphysik des omnipotenten Menschen an, dem animal rationale, das sich selbst herstellt, in Freiheit selbstverwirklicht und von Natur ungebunden nach den Vorstellungen des eigenen Verstandes als Naturwesen ausbessert. Die Züchtungsphantasien bewegen sich sprach- bzw. metapher-geschichtlich anscheinend überhaupt innerhalb des gleichen historischen Horizontes. So nannte man Stalin, dessen "großen Plan zur Umgestaltung der Natur" die sowjetische Naturwissenschaft (Lysenko) zu verwirklichen trachtete, auch der "große Gärtner"; Sloterdijks "Menschenpark" passt geradezu harmonisch in dieses metaphorische System hinein, obwohl er als Vokabel erst ein paar Jahrzehnte später aufgetaucht ist. Das Phantasiereservoir, dem diese Metapher entspringen, ist metaphysikgeschichtlich eins und dasselbe.

Vor diesem metaphysik-geschichtlichen Hintergrund erscheinen die Züchtungsphantasien im Zusammenhang mit dem Topos der "(Selbst)Verwirklichung", der seine zerstörende Gefährlichkeit im leninistisch/stalinistischen Experiment bzw. durch die kommunistische Praxis schon bewiesen hat. Dass dieser theoretische Entwurf der Umbau der ganzen Gesellschaft, der seinen Ursprung im Marxschen Gedanken der "Veränderung der Welt" und der Selbstverwirklichung des Menschen hat, samt der Engelsschen Phantasie vom Gedichte schreibenden, fischenden usf. selbstverwirklichten menschlichen Subjekt, bei der Umsetzung die Hölle auf Erden schuf, war durch die totale macht-politische Verfügung über die Gesellschaft möglich. Die Gefährlichkeit der Verwirklichung der neuen science-fiction-Utopien könnte der technologischen Übermacht entspringen oder der Koppelung des technisch Machbaren mit der Wirtschaftlichkeit als einem Absolutum, das wir heute anscheinend nicht zu hinterfragen vermögen. Diese Koppelung erscheint wie eine transzendentale Unverfügbarkeit - jenseits der kritisch-diskursiven Vorstellungskraft. Wenn man sich die Gefährlichkeit der Verwirklichungspotentiale aus dem Fundus der technischen Einbildungskraft als eine neue Form des Totalitarismus vorzustellen versucht, dann ist das ein altes Behelfswort für etwas, was wir noch gar nicht kennen, wofür wir noch keinen Namen haben, was aber gewisse Analogien zu schon bekanntem Totalitarismus enthalten könnte. Vielleicht könnte man sich dem nähern, wenn man die skizzierten gemeinsamen Grundzüge des Menschenbildes anspricht, und das Bewusstsein dafür schärft, dass nicht die Technik (die dämonisierte und angebetete zugleich) an sich ein Gefahrenpotential ist (auch nicht der Mensch, einfach so und als solcher), sondern der (zumeist unbewusste) metaphysische Entwurf, der Vorstellungshorizont, innerhalb dessen der technologische Fortschritt stattfindet, letztendlich also nicht das Neue an den New Sciences, sondern das Alte.
 

Themen der Einzelveranstaltungen:

Der neue Mensch. Alte und neue Evolutionsverbesserer.
Über den nachhaltigen Einfluss des Darwinismus 

Freitag, 07. Juni, 20.00 Uhr
Ikonen-Museum, Brückenstraße 3-7, Frankfurt am Main
(Bus 30 oder 36 bis Elisabethenstraße)

Sichtet man die Leitvorstellungen auf dem Gebiet der rasant fortschreitenden Biowissenschaften und Technologien, so wird man feststellen, dass wir noch immer in einer ‚(post)darwinistischen Epoche' leben. Die enormen Auswirkungen von Charles Darwins Entdeckung und Evolutionstheorie lassen sich schwerlich auf einen Nenner bringen, ja sie finden sich in geradezu gegensätzlichen geistigen Strömungen. Eine Tendenz aber quer durch die ideologischen Lager und Epochen der Moderne gibt es sehr wohl: jene nämlich, dass die nachvollziehbar gemachte Evolution gern für menschliche Verbesserungsversuche in Anspruch genommen wird. Der Darwinismus wirkt in jeder Ideologie des 20. Jahrhunderts und in allen Entwürfen des "Neuen Menschen" nach. Auf dem Podium sollen vor allem drei Themen besprochen werden: der "Neue Mensch" im gesellschaftlich-utopischen biologistischen Entwurf der Sowjetideologen, als impliziter Bestandteil des allgemeinen Fortschrittsglaubens und im gegenwärtigen Streit über Darwinismus.

Es diskutieren:
ANDREW BROWN, Wissenschaftsjournalist aus London, 
KARL OTTO HONDRICH, Gesellschaftswissenschaftler aus Frankfurt/M.
DIETRICH BEYRAU, Osteuropahistoriker aus Tübingen

Unter Gesprächsleitung von: 
OTTO KALLSCHEUER, Philosoph, Politikwissenschaftler und Kolumnist der FAS, Sassari, Sardinien

Eintritt: 5 €

In Kooperation mit: 
Palais Jalta, Europabüro der Stadt Frankfurt/M. und HR 2
 

Weitere Debatten im Rahmen der Reihe:

13. Sept. 2002:
Alte und neue Biopolitik. Zwischen ethischem und genetischem Selektieren 
mit GÖTZ ALY, Wien, JENS REICH, Berlin, PHILIPP SARASIN, Zürich
 

06. Dez. 2002:
Die Metaphorik der unbegrenzten Machbarkeit
mit WOLF SINGER, Frankfurt/M., DIETER SIMON, Berlin, JIRÍ FIALA, Prag
 

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