KRISE DER DEMOMKRATIE; PRODUKTIONSÖFFENTLICHKEIT UND NETZPOLITIK 

von Hans Jürgen Krysmanski
 

Vorbemerkung 

Der Hintergrund der folgenden Bemerkungen ist zunächst einmal die Tatsache, daß im zusammenwachsenden Europa den Bestrebungen um die Entwicklung einer eigenständigen Informationsindustrie höchste Priorität gilt. Ich selbst bin an einem Projekt der Europäischen Kommission beteiligt, das unter dem Titel 'European Popular Science Information' Möglichkeiten eines Wissenschaftsfernsehens erkundet, das zugleich multimedial mit dem Einsatz von Videos, CD-ROMs etc. in Bildungskontexten und mit der Erprobung von wissenschaftlichen Dienstleistungen auf dem Internet verbunden ist. 

Die 'Popularisierung wissenschaftlichen Wissens' an solchen Schnittstellen der 'Neuen Medien-Kultur' gehört sicher mitten in die Diskussion des Demokratieproblems, das ja keinesfalls auf das Erschließen neuer Kommunikationsmöglichkeiten reduziert werden kann, sondern immer und zuallererst ein Problem der Inhalte, der Perspektiven und konkreten Utopien bleibt. 

Insofern ist es völlig klar, daß die Technologie der interaktiven Netze hinsichtlich des Demokratieproblems nur ganz spezifische Fragen aufwirft und keineswegs etwa die Demokratie und ihre Krise als solche betrifft oder gar als Retterin einer Demokratie auftreten kann, deren Substanz zutiefst erodiert ist. 

Ich möchte das Thema im folgenden unter fünf Stichworten umspielen - Produktionsöffentlichkeit, Postmoderne, Wissenschaft und Massenkultur, Netzarbeit und Eigentum, Aktionärsdemokratie - und abschließend eine Bemerkung über ein netzbezogenes demokratiepolitisches Problem machen, das allen Beteiligten auf den Nägeln brennt, aber selten offen angesprochen wird.
 

Produktionsöffentlichkeit 

Die Diskussion um die politische Dimension des Internet wird derzeit geführt, als hätte es keine politische und eben auch demokratietheoretische Diskussion um den Begriff der Öffentlichkeit gegeben. Nun sind aber die interaktiven Netze, die man sich unter dem Namen Internet zusammendenkt, geradezu der Inbegriff von Öffentlichkeit und vor allem des Problems Öffentlichkeit. 

Die Öffentlichkeitsdiskussion, die mich hier interessiert, fing an mit dem epochemachenden Büchlein 'Dialektik der Aufklärung' von Adorno und Horkheimer, geschrieben im kalifornischen Exil 1942, gedruckt 1946, erst in den Sechzigern breit rezipiert von der Studentenbewegung. Sätze und Auffassungen aus diesem Text, vor allem aus dem Kapitel über die Kulturindustrie, sind noch tief in unserem politischen Unterbewußten versteckt und wirken dort programmsteuernd, oder auch nur als Viren oder Cookies. 

Die Öffentlichkeitsdiskussion in dieser Tradition ging dann weiter. Habermas hatte in den Sechzigern seine Lehrer Adorno und Horkheimer schon beträchtlich mit seiner Habilitationsschrift über den 'Strukturwandel der (bürgerlichen) Öffentlichkeit' irritiert, indem er den Zerfall, die Dekonstruktion jener 'gedruckten' Öffentlichkeit der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nachzeichnete, in welcher diese linken Groß- und Bildungsbürger trotz aller Kulturkritik noch lebten. 

Die bürgerliche Öffentlichkeit und bürgerliche Demokratie als Schimäre, aber auch als Moloch: wie vertraut war dieses Bild der 68er Bewegung und wie sehr suchten sie im und mit dem Proletariat nach Gegenöffentlichkeiten, ja nach proletarischer Öffentlichkeit. 

Ein Paukenschlag, längst verhallt, gegen die falsche Antinomie von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit war dann, 1976, der Begriff der Produktionsöffentlichkeit, den Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrer Schrift 'Öffentlichkeit und Erfahrung' vorlegten.(1) Das Buch ist erst 1992 ins Amerikanische übersetzt worden - aber seitdem wirkt es dort gewaltig, auch und gerade in der linken, kritischen Netzgemeinde, welcher auch genau bewußt ist, was Alexander Kluge seither und insbesondere seit 1985 in den Medien - mit dctp - getrieben hat. 

Wie 'postmodern' und damit - entgegen allem Anschein - aktuell Negt und Kluge schon wenige Jahre später, in 'Geschichte und Eigensinn'(2) der Begriff der Produktionsöffentlichkeit geriet, sei mit der folgenden Passage aus dem Kapitel 'Deutschland als Produktionsöffentlichkeit' illustriert: 

Zunächst zitieren Negt und Kluge Friedrich Nietzsche (Genealogie der Moral): "Man möchte...sagen, daß überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimnis, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk gibt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist: die Vergangenheit...haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir 'ernst' werden. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen...Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heißt, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie teuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grund aller 'guten Dinge'!" 

Und dann Kluge/Negt über 'Deutschland als Produktionsöffentlichkeit': "Unser schönes Deutschland ist eine 'ungeheure Sammlung' von solchen 'guten Dingen'. Sie sind die Ware, mit der die Geschichte umgeht, dieses gute Ding im Menschen, das unablässig fortarbeitet... - ...Und zwar...in zwei verschiedenen Richtungen: Der Einzelne und sein Monstrum, das sog. Ganze, das Land, wird die Wiedergutmachung sämtlicher über 800 Jahre produzierten Trennungen niemals aufgeben, ehe nicht für das Gefühl, das sich darin nicht täuscht, die Einlösung der Geschichte wirklich erfolgt ist, also mein Boden, mein Gemeinwesen und meine Selbstbestimmung über die Bedingungen meiner Arbeit gemeinsam hergestellt werden. Die andere Richtung ist die der Gleichgültigkeit (u: HJK) gegenüber allem, was subjektive, kollektive und bewußte Reaktion ist, z.B. auf die Erfahrung von Nationalsozialismus und Krieg. (Diese Erfahrung) geht in keine Öffentlichkeit, nicht in die Betriebe und eigentlich auch nicht in die politischen Institutionen ein."(3) 

Und auch die interaktiven Netze - Netscape, Microsoft und Al Gore seien davor - nehmen diese Erfahrungen nicht auf. Oder doch?
 

Postmoderne 

Die interaktiven Netze dehnen sich explosionsartig aus zu dem historischen Zeitpunkt, als im Jahre 1989 die klassische Moderne mit ihren beiden alternativen Ausformungen von Industriegesellschaft, Hochkapitalismus und Rohsozialismus, zusammenbricht. Das ist kein Zufall. 

Die interaktiven Netze sind gesellschafts- und demokratietheoretisch überhaupt nicht zu begreifen, wenn sie nicht als ein postmodernes, spätkapitalistisches Phänomen gesehen werden. Das heißt, sie sind kein Phänomen betulicher Heimcomputerarbeitsplätze in Reihenhäusern, sondern sie implizieren enorme Umwälzungsprozesse, in denen nichts mehr so ist wie es war und auch nichts mehr so werden wird wie es war - einschließlich der Demokratie. 

Auch wir, die wir hier strategisch über Perspektiven der Cyberdemokratie reden, unterliegen diesem Prozeß der Postmodernisierung und Amerikanisierung: 

  • Amerikanisierung erstens in dem Sinne, daß dieses Land die Logik des Spätkapitalismus am schnellsten und wirkungsvollsten ausformt und um den Globus trägt; 
  • zweitens: weil unsere interaktiven Netze durch und durch amerikanisch programmiert sind; 
  • und drittens: weil dort der 'Eigensinn', auf den der Begriff der Produktionsöffentlichkeit noch setzte, schon an sich selbst verzweifelt: "Virtualität breitet und breitet sich aus. Das Fleisch wird zum Rohstoff der medialen Landschaft. Zugleich beginnen die materiellen Grundlagen eben dieser Virtualität zu implodieren. Wie lange kann dieser Zustand andauern, bevor der Crash kommt? Die Einbildungskräfte wachsen, während Umwelt und Infrastruktur verrotten: das ist die Rache der Materie. Die Wirtschaft verrottet, Politik verrottet ebenso wie das Soziale. Einzig und allein die Kulturen der Medienlandschaft blühen. -Die materielle Lage: überall Überschuldung (für Depressionsphasen typische 'Schulden-Liquiditäts-Spiralen'), daraus entstehende Handelskriege - und etwas ganz Neues: Pankapitalismus. Dazu sein mörderischer Doppelgänger Faschismus als einzige Alternative. Dieser Kapitalismus muß den Faschismus ohne die Hilfe des Sozialismus - der ist ökonomisch, politisch, sozial (Hallo, Proletariat!) und symbolisch tot - abwehren. Das ist der zentrale politisch-ökonomische Konflikt unserer Zeit. Er wird an jedem Punkt durch den Prozeß der Virtualisierung durchkreuzt. Virtueller Faschismus? Der Pankapitalismus, als Mechanismus der Virtualisierung (weil er den Lebenswillen, um ihn zu 'ersetzen', aufsaugt), begegnet seinem mörderischen Double."(4) 
Da träumen die düpierten Intellektuellen des Ostens, schreibt der bedeutendste amerikanische Kulturkritiker, Fredric Jameson, noch immer von einer Zivilgesellschaft, deren Ende im Westen längst besiegelt ist. Das Ende der Zivilgesellschaft zeigt sich am Verschwinden der öffentlichen Sphäre als solcher: an der Zurückverwandlung städtischer und staatlicher Regierungen in private Netze der Korruption und informelle Klan-Beziehungen. Statt des Gegensatzes von privatem und öffentlichem Raum entsteht ein 'Niemandsland', entgrenzt in jeder Hinsicht, ein Raum ohne private property oder public law.(5) 

Doch dieses Niemandsland ist keineswegs nur ein Alptraum. Hier entfalten sich - möglicherweise, so hoffen die Amerikaner, - distinkte neue Formen gesellschaftlicher Praxis, in einem eigentlich schon voll ausgebildeten posturbanen Raum, dessen ökonomische Tiefenstruktur darin besteht, daß korporatives Eigentum die alten, individuellen Eigentumsformen irgendwie abgeschafft hat, ohne selbst öffentlich geworden zu sein.(6) Cyberspace gehört dazu - und auch die Perspektive der Cyberdemokratie! 

Die universelle Maschine der vernetzten Computer ist das Herz des spätkapitalistischen Produktionssystems. Die universelle Maschine der vernetzten Computer ist zuallererst Produktions-Maschine - und erst dann und dadurch globale Kommunikation. So wie Fordismus und klassischer Imperialismus ihre Produkte einst zentral entwickelten und dann auf die Märkte warfen, so ermöglicht die Computertechnologie den Post-Fordisten heute die Entwicklung spezieller Produkte für individuelle Märkte und damit ein Eingehen auf regionale Bedürfnisse ohne Verzicht auf globale Expansion. 

Diesem Entwicklungsschema folgt auch die Ausbreitung der interaktiven Netze. 

Das Regionale, schreibt Fredric Jameson, wird "zum Geschäft globaler amerikanischer Disneyland-inspirierter Konzerne, welche euch eure heimische Architektur (und eure lokalen Denkgebäude, HJK) viel präziser hinbauen als ihr es könntet. Ist globale Differenz dann nicht das gleiche wie globale Identität?"(7)
 

Wissenschaft und Massenkultur 

Im Kontext dieser informationstechnologischen Revolution vollzieht sich auch die Reuniversalisierung der Wissenschaften. 

Die universalistische Tradition der Wissenschaften war unter den Bedingungen der imperialistischen und der System-Konkurrenz dem Geheimhaltungsprinzip zum Opfer gefallen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die fortdauernde Profitkonkurrenz das Geheimhaltungsprinzip wissenschaftlicher Forschung zum Privatisierungsprinzip gesteigert. Doch die Netze treiben, trotz aller elektronischen Spionage, das Prinzip der zum Schaden des jeweils anderen eingegangenen Verschwörung auch ad absurdum. Einerseits sind sie zum Inbild verschwörerischen Geschehens geworden. Andererseits aber sind die Netze die durch alle conspiracies hindurchscheinende Möglichkeit einer totalen Transparenz. 

Die objektive ökonomische Realität der Datennetze wird zum Symbol für ein Netzwerk der Konspiration, der Unkontrollierbarkeit, der Geistesverbrechen aller Art werden - und zugleich zur Hoffnung, um es einmal emphatisch auszudrücken, einer fundamentaldemokratischen globalen Wissenschaftlergemeinschaft. 

In manchen Fächern ist die Forschungskommunikation bereits signifikant in die Netze verlagert worden. Die Vermittlung standardisierten Wissens über die Netze und Ansätze 'netzgestützten Forschens und Lernens' kommen in Gang. Die Darstellung von Forschungsergebnissen und Lernprozessen und die Selbstdarstellung von einzelnen Wissenschaftlern, 'wissenschaftlichen Schulen' und ganzen Disziplinen macht zudem, wie könnte es anders sein, auch ästhetische Fortschritte und beginnt so auf eine neue und eigentümliche Weise das öffentliche Bild von Wissenschaft zu prägen. 

Andererseits bestimmt gerade in unserem Land, in dieser 'Produktionsöffentlichkeit Deutschland', noch immer, tief im wissenschaftspolitischen Unbewußten, die Erfahrung vergangener Schrecken die Einschätzung dessen, was intellektueller Hochkultur allenfalls möglich ist. "Wir dürfen", schrieb Max Horkheimer einst an Paul Tillich, "nicht mehr hoffen, als daß, wenn der Tag einmal anbrechen sollte, das, was wir geschrieben haben, als ein kleines Sternchen anerkannt wird, das kaum wahrnehmbar in der grauenhaften Nacht der Gegenwart geschienen hat. Was sollte der Blick, der ins Feuerwerk der Magazine und der anderen routinierten Produktionen der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Massenkultur starrt, wenn er sich dort abwendet, anderes wahrnehmen als eben die Finsternis".(8) 

Doch die Situation ist heute anders und neu. Wir müssen uns auf die Schrecken der Zukunft einstellen. Wir befinden uns in einem gesellschaftsformationellen Prozeß, der 'Ohnmacht', 'Finsternis' und 'Risiko', so tief und groß sie sein mögen, gleichmäßiger verteilt als jemals zuvor. Andreas Zielcke nennt das die 'Egalisierung des Kapitalismus'.(9) 

Für unseren Zusammenhang heißt das: im posturbanen Raum der untergehenden Zivilgesellschaft - auf langsame und grausame Weise gemordet durch das Fernsehen(10) - sind nicht die Unterschiede zwischen Hochkultur und Massenkultur, sondern die Durchlässigkeiten zwischen Ober- und Unterwelt, zwischen Geschichte und Eigensinn, zwischen Arbeit und Kapital zum Gegenstand geworden. In solchen Zeiten dient das Projekt einer Popularisierung von Wissenschaft, auch von links gesehen, kaum mehr dem Volk - es ist aber möglicherweise die verbleibende Chance zur Fortsetzung wissenschaftlicher Vernunftversuche überhaupt! 

Im übrigen geht es weniger um 'Wissenschaft' und mehr um science

In der Amtssprache der Europäischen Kommission lautet der Fahrplan für die Züge ins Niemandsland denn auch wie folgt: Design of New Communication Methodologies and Public Oriented Pedagogical Tools; Analysis and Promotion of Methods for Validation of Information Made Available on Internet etc. - Call for Proposals to Stimulate the Production of High Quality Multimedia Information Content in the Information Society; Economic Exploitation of Europe's Cultural Heritage etc. 

Pragmatisch auf diese informationsgesellschaftlichen Züge aufzuspringen heißt, als Produzenten wissenschaftlicher Inhalte der Informationsindustrie bewußt und gut organisiert zuzuarbeiten, zum Beispiel popular science Angebote zu machen, die wenigstens dem beachtlichen ästhetischen und technischen Standard der Massenkultur entsprechen; innerhalb der Massenmedien Stoffelder zu besetzen und zu bewirtschaften; auch im kommerziellen Bereich des Internet die großen Ressourcen der Wissenschaftsnetze zu aktivieren. 
 

Netzarbeit und Eigentum 

Doch das ist nicht genug, wenn man an Alexander Kluge denkt. Und vor allem wenn man bedenkt, daß in der Produktionswelt der vernetzten Computer ein neuer Typus des Produzenten entsteht - ja durch die interaktiven Netze erzeugt wird. Man wird künftig nicht mehr, wenn man 'Produzent' sagt, hinzusetzen müssen: natürlich meine ich den Unternehmer, oder: ich meine, im marxistischen Sinne, selbstverständlich den Arbeiter. Der 'neue Doppelgänger' kommt, die "massenhafte Metamorphose von Arbeitnehmern zu Unternehmern ist in vollem Gange".(11) 

So taucht beispielsweise an organisatorischen Schnittstellen der Medienökonomie, argwöhnisch beäugt, eine neue Beschäftigtengruppe auf: die Netzexperten. Sie verfügen über Zugriffskompetenz auf den gesamten Informationsfluß. Sie beherrschen und entwickeln, ob es ihren Auftraggebern lieb ist oder nicht, eine Netzkultur, die nicht vom ökonomischen Arbeitsprozeß strukturiert ist, sondern ihn strukturiert. Bei ihnen gehen 'Arbeitszeit' in 'Freizeit', 'Arbeitsraum' in 'Freiraum' über, weil nur so das Produktionsmittel 'Netz' funktioniert. Informationelle Limitationen - Verheimlichung oder Kommodifizierung von Wissen, Kontroll- und Disziplinierungsversuche - werden von dieser Gruppe immer und sofort als Eingriffe erfahren, die nicht aus den Netzen, sondern aus einer untergehenden Welt stammen. 

Die Eigentumswirtschaft(12) befindet sich gegenüber diesen Operateuren, die auf der Basis geistiger Eigentumsansprüche nicht mehr agieren könnten, in einem fast hoffnungslosen Abwehrkampf. 

Die Eigentumsfrage und die Netze: das ist das vielleicht spannendste Thema. Es bleibt nicht auf Fragen des geistigen Eigentums beschränkt. Ganz offensichtlich fallen mit der netzgewollten Überschreitung von territorialen, staatlichen, rechtsgebietlichen Grenzen, mit der Verschränkung der öffentlichen und privaten Sphären, mit der Unmöglichkeit, 'Intranets' intern zu halten usw. alle möglichen Formen der 'bürgerlichen' Sicherung von property rights in sich zusammen. 

Von dort aber prägt sich auch die Demokratiediskussion. Die Netze sind schon rein quantitativ nur zu einem ganz geringen Teil als eine 'virtual community' und damit als eine angenehme Nischenwelt zu bestimmen. Sie sind im wesentlichen das Medium der globalen Organisation von Produktion und Markt und in genau diesem Sinn der Inbegriff einer Produktionsöffentlichkeit, die sich nicht auf die scheinbar ahistorischen Vorgänge der unmittelbaren Profit- und Eigentumswirtschaft beschränken läßt, sondern in zunehmendem Maße - um bewußt noch einmal mit Nietzsche zu reden - die Herkunft aller dieser 'guten Dinge' aus dem 'Blut und Grausen' des welthistorischen Prozesses reflektieren muß. 
 

Aktionärsdemokratie 

Gerade auf den Finanznetzen bildet sich so etwas wie eine globale Produktionsöffentlichkeit heraus. Denn ist es nicht so, daß gerade in jeder erfolgreichen Spekulation mit Eigentumsanteilen "etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt"(Nietzsche) wird? 

Der Gebrauch des Internet, um Märkte, Finanz- und Aktienmärkte zu beobachten, Informationen zu sammeln und vor allem Aktienanteile zu handeln, ist in bemerkenswert kurzer Zeit zu einem energisch eingesetzten modus operandi für eine wachsende Zahl globaler Investoren geworden.(13) 

Im Sommer 1996 waren es nach Untersuchungen schon rund 1 Million Investoren im globalen Maßstab, die sich des online-trading bedienten - ein zwar noch winziger Prozentsatz der 'investierenden Öffentlichkeit, der aber täglich wächst. 

Wer sind diese 'Cyberinvestoren'? Zunächst einmal eine Mischung aus amerikanischen 'expatriates' und - aus amerikanischer Sicht - 'Ausländern'. Die meisten von ihnen leben in Westeuropa - mit Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden an der Spitze. In Asien konzentrieren sie sich auf Hong Kong, Singapur, Tokio und Taiwan. "Ihnen gefällt der leichte Zugang zum amerikanischen Markt und die Tatsache, daß sie sich auf dem Internet Informationen beschaffen können, die sie niemals von einem Broker bekämen." 

Und natürlich häufen sich die Internet-Investoren vor allem in den USA, wo die begrenzte staatlich garantierte Altersversorgung längst große Teile der Mittelschichten dazu zwingt, ihr Geld auf den Aktienmärkten anzulegen und zu bewegen, um ihr Alter diesseits der Armutsgrenze zu verbringen. 

Der Aktienhandel auf dem Internet ist ein Alptraum für Regulatoren. Die amerikanischen Aufsichtsbehörden, beispielsweise, geben zu, daß die Technologie einen beträchtlichen Vorsprung vor den Kontrollmöglichkeiten hat. 

"Wenn diese elektronische Massenkommunikation erst einmal läuft", sagt Online-Investor Tom Gardner, "werden die Konsumenten, auf die es heute ankommt, nämlich die Aktionäre, diese ganze Welt der Unternehmen, Produkte, Dienstleistungen, ihre Profitabilität und ihre Managementleistungen ganz anders durchleuchten können als früher. Es wird ein kooperatives Milieu statt eines kompetitiven Milieus entstehen! Eines, in dem Informationen frei fließen werden, anstatt exklusiv zu einer kleinen, ausgewählten Gruppe von Leuten in Manhattan zu gelangen."(14) 

"Ich glaube", fährt Gardner fort, "das World Wide Web wird mit seiner Interaktivität dazu beitragen, daß eine Massendiskussion über den Investitionsprozeß insgesamt in Gang kommt - und das bedeutet letztendlich, daß der Markt nicht nur beeinflußt wird, sondern daß dies der Markt selbst sein wird!" 
 

Schlußbemerkung 

Geschichte und Eigensinn auf den Netzen: wo, wenn nicht dort, wird sich in den nächsten Jahrzehnten Weltgesellschaft als Produktionsöffentlichkeit entfalten? Produktionsöffentlichkeit in ihrer doppelten Gestalt, 

  • als Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Geschichte 
  • und als Eigensinn des Einzelnen, "meinen Boden, mein Gemeinwesen und meine Selbstbestimmung über die Bedingungen meiner Arbeit gemeinsam herstellen zu wollen." 
Mit dieser eigenwilligen Verknüpfung eines, wie Alexander Kluge das gelegentlich nannte, subversiv-patriotischen Öffentlichkeitsbegriffs mit dem global-pluralistischen Netz-Hype amerikanischer Provenienz sei somit abschließend noch auf eines hingewiesen: die Demokratiepolitik im Medium der interaktiven Netze wird sich, wie überall sonst, wenn nicht als 'Clash of Civilizations', so doch als 'Kampf der Kulturen' vollziehen. Auch das Internet wird, so läßt sich die Position des US-Präsidentenberaters Samuel P. Huntington aufnehmen, als ein Instrument amerikanischer Weltinnenpolitik gesehen werden müssen. Allerdings wird die elektronische Auseinandersetzung um neue Formen politischer Kultur auf einem Niveau geschehen können, das durch die vornehmlich in Amerika vollzogene kulturtechnische Leistung der Internet-Struktur präformiert ist. Diese Struktur als einen der Logik des Spätkapitalismus geschuldeten kulturellen 'Fortschritt' zu akzeptieren, ohne ihren damit verbundenen globalstrategischen Anspruch zu verkennen, dürfte für spannende Netzaktivitäten sorgen.
 

Literatur

1 O. Negt/A. Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. 1976 

2 O. Negt/A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/M. 1981, S. 361ff 

3 ebenda, S.362 

4 Kroker/Weinstein, The Political Economy of Virtual Reality. Pan-Capitalism, In: Ctheory, http.//english-server.hss.cmu.edu/ctheory/ctheory.html 

5 Fredric Jameson, Seeds of Time, New York 1994, p.158 

6 ebenda, p.159 

7 ebenda, p.204f 

8 ZNThG 1994/1, S.289 

9 Andreas Zielcke, Der neue Doppelgänger. Die Wandlung des Arbeitnehmers zum Unternehmer - Eine zeitgemäße Physiognomie, Frankfurtert Allgemeine Zeitung, 20.7.1996 

10 Robert D. Putnam, The Strange Disappearance of Civic America, The American Prospect no. 24 (Winter 1996 - http://epn.org./prospect/24/24putn.html -) 

11 Zielcke, a.a.O. 

12 vgl. G. Heinsohn/O. Steiger, Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1996 

13 International Herald Tribune, July 20-21, 1996, p.14ff 

14 ebenda