Frankreich und sein schwieriges koloniales Erbe

Frankreich und sein schwieriges koloniales ErbeDokumentation vom 13.07.2022

Europa atmete erleichtert auf, dass Emmanuel Macron im Mai für eine zweite Amtszeit zum Staatspräsidenten Frankreichs gewählt wurde. Doch im ersten Wahlgang konnten populistische Kandidaten mit ihrer europafeindlichen, nationalistischen Programmatik mehr als die Hälfte der Wählerinnen- und Wählerstimmen auf sich vereinen. Dieser rückwärtsgewandte Nationalismus wird meist damit erklärt, dass wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierungen lange Zeit versäumt oder aber blockiert worden sind, wachsende soziale Unzufriedenheit die Wut auf die regierende Elite und auf „das politische System“ habe wachsen lassen.

Doch hat der nationalistische Populismus in Frankreich auch einige spezifische Züge. Da sind zum einen die vielen muslimischen Immigranten, die aus den ehemaligen Kolonien, zumal aus Algerien, ins Hexagon immigriert sind, und ihre Nachfahren, deren gesellschaftliche Integration mit dem hergebrachten laizistischen Republikanismus nicht gelingen will. Da ist zum anderen die lange Liste islamistisch begründeter Terroranschläge (Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza usw.), die Angst und Schrecken verbreiten. Das wird vom Rechtspopulismus instrumentalisiert und geschürt, Islamfeindschaft ist weit verbreitet und reicht bis in intellektuelle Kreise hinein.

Frankreich ist nicht nur das Land der Menschenrechte, sondern hat auch eine lange und grausame Kolonialgeschichte. Der Algerienkrieg (1954-1962) belastet die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien wie ein „Wundbrand“ (Benjamin Stora), aber auch das Verhältnis der französischen Nation zu sich selbst. Der Schleier des Beschweigens, der lange über dieser Geschichte hing, wurde in den letzten Jahren nach und nach gelüftet. Präsident Macron hat den Kolonialismus ein „Menschheitsverbrechen“ genannt und die Folterpraktiken der Armee in Algerien eingestanden, worauf ehemalige Generäle sich prompt zu Wort meldeten, um sie zu verteidigen, wie das Jean-Marie Le Pen seit langem tut. Zu den strammen Wählern des rechtsextremen Front national gehört die Mehrheit der pieds noirs, d.h. der Franzosen, die während und nach dem Algerienkrieg nach Frankreich übergesiedelt sind. Und die harkis, die Algerier, die an der Seite der Kolonialarmee gegen die Aufständischen gekämpft hatten, wurden zunächst in Auffanglagern interniert und lebten danach lange in sozialer Segregation. Ihre Nachkommen sperren sich gegen den republikanischen Kanon der Nation, gegen ein abstraktes Gleichheitsversprechen, das Unterschiede durch Assimilation zu glätten versucht. Sie verlangen Aufklärung und Rechenschaft. Kurzum: Die tiefen politischen Risse in der französischen Gesellschaft haben viel mit dem kolonialen Erbe zu tun. Auf die Herkulesaufgabe seiner Aufarbeitung, der Überwindung des Rassismus und der gesellschaftlichen Integration der Nachfahren der ehedem Kolonisierten bezieht sich der prima facie rätselhaft anmutende Titel von Claus Leggewies neuestem Buch: „Reparationen“ (Kinzelbach Verlag Mainz 2022). Der Untertitel „im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland“ verweist darauf, dass die Bundesrepublik im Algerienkrieg kein unbeteiligter Zuschauer war.

Über diese Fragen wollen wir im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „Was ist los im Nachbarland Frankreich?“ diskutieren.

Was ist los im Nachbarland Frankreich?

Frankreich steht in diesem Jahr in mehrfacher Hinsicht im Fokus. Es hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, weshalb Europa stärker auf Paris schaut. Außerdem fanden im April Präsidentschaftswahlen und im Juni Parlamentswahlen statt. Damit stehen Entscheidungen an, die möglicherweise unabsehbare Konsequenzen für Frankreich und auch für die ganze Europäische Union haben. Es ist ungewiss, ob es zu einer Wiederholung von 2017 kommt, als Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl mit einem pro-europäischen Wahlkampf gewann.

Seit Jahren wurden in Frankreich wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierungen versäumt oder aber blockiert, was die Kluft zwischen der politischen Elite und sozialer Unzufriedenheit im ganzen Land gefährlich vertieft hat. Die republikanische Verheißung der einst so glorreichen Parole Liberté, égalité, fraternité hat viel von ihrer Integrationskraft eingebüßt, stattdessen überwiegt weithin Misstrauen (défiance) gegen die politische Klasse. Wie sehr es in der französischen Gesellschaft seit langem brodelt, hat die Revolte der „Gelbwesten“ zu Tage gebracht, in der sich militanter sozialpolitischer Protest mit rassistischem Hass und wütenden Attacken auf Symbole und Institutionen der Republik vermischten.

Frankreichs Linke ist schwach und zersplittert. Populisten und Nationalisten gelingt es zusehends, aus den sozialen Spannungen und Frustrationen politisches Kapital zu schlagen. Alarmierend ist, dass das Rassemblement National von Marine Le Pen rechts überholt wird; Éric Zemmours brachial rassistische Rhetorik verwischt die Differenz zwischen Rechtspopulismus und Faschismus. Das ist hierzulande schwer zu verstehen, betrifft uns aber unmittelbar, steht doch im Fadenkreuz nicht nur „das System“ in Frankreich, sondern auch die Europäische Union. Grund genug für uns, die irritierenden Entwicklungen in unserem größten Nachbarland in mehreren Veranstaltungen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.